Einer der ersten Sprüche, die ich in meinen Tagebüchern notierte, lautete (und damit bin ich in illustrer Gesellschaft, denn auch
Thomas Mann schrieb am 14. 5. 1888 diesen Spruch von
Jean Paul in das Poesiealbum von Johanna Bussenius, der Tochter des Leiters seines Gymnasiums, siehe
hier und
hier, allerdings wird das Zitat in beiden Büchern unterschiedlich zitiert):
„Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“
Auch
Das Gedächtnis ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nie vertrieben werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht getrieben [sic] werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, daraus wir nicht vertrieben werden können!
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können.
Erinnerung ist das Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.
Imagination is the only paradise from which we cannot be expelled.
Memories are the only paradise from which we cannot be expelled.
Memory is the only paradise from which we cannot be expelled
Our memory is the only paradise from which we cannot be expelled
Recollection is the only paradise from which we cannot be turned out.
Remembrance is the only paradise from which we cannot be expelled.
The memory is the only paradise from which we can not be expelled.
The memory is the only paradise from which we cannot be driven away.
The only Paradise from which we cannot be expelled is the Memory.
El recuerdo es el único paraíso del que no podemos ser expulsados.
La imaginación es el único paraíso del que no podemos ser expulsados.
La memoria es el único paraíso del que no podemos ser expulsados.
Und nun, etliche Jahre später und viele falsche Zitierweisen weiter, überlege ich, ob Jean Paul (nicht „unbekannt“, ein weiser Rabbi oder zugeschrieben und auch nicht von
Blaise Pascal,
Michael de Montaigne oder
Novalis, die gern für gute Sprüche herhalten müssen, aber auch nicht von
Dietrich Bonhoeffer, der bei Traueranzeigen gern als Urheber genannt wird) es wirklich so gesagt hat. Die Antwort ist einmal mehr nein. Denn richtig lautet das Zitat, was vermutlich kaum einer weiß:
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können. Sogar die ersten Eltern waren nicht daraus zu bringen.
(
Impromtü’s, welche ich künftig in Stammbücher schreiben werde. (1811.) 29. Erinnerung. In
Jean Paul’s sämmtliche Werke. Reimer 1838, S.
159; als Quelle wird auch sein Roman
Die unsichtbare Loge aus den Jahr 1793 genannt, ich habe es aber dort trotz der irgendwo angegebenen Quellenangabe „1, 13“ (= 1. Teil, 13. Sektor?) nicht gefunden.
Nach anderen Versionen, unter anderem ebenfalls eine aus dem Jahr 1811, lautet es:
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können. Sogar die ersten Ältern waren nicht daraus zu vertreiben. (Zeitung für die elegante Welt Berlin, S. 1556)
Ob das auch eine Version Jean Pauls ist oder er nur falsch zitiert wurde, konnte ich leider nicht feststellen.
Die Version ohne den Zusatz mit den Eltern, also nur in der Form
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können,
wurde, warum auch immer, zuerst 1812 im
Cotta’schen Taschenbuch für Damen gedruckt. Vielleicht weil die Damen als Mütter so etwas nicht in Stammbücher oder Poesiealben schreiben würden. (Zitiert nach
Karl Kraus Frühe Schriften: Erläuterungen. Suhrkamp 1988, S.
141)
– Kleines Schmankerl am Rande: In diesem Blatt ließ
Goethe (
O-Ton „
Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen …“) mit den Worten „Beykommendes wünsche für den Damenkalender geeignet!“ zehn Jahre lang Ausschnitte aus seinem Roman
Wilhelm Meisters Wanderjahre als Teil seiner Verkaufsstrategie(!) vorabdrucken (mehr dazu siehe
http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/wanderjahre_bunzel.pdf). –
Gar nicht auszumalen, wie viele Autoren so manche Zeilen gar nicht geschrieben hätten, weil sie sich mit Jean Pauls Worten auseinandersetzten, wenn allein die vollständige Version überliefert worden wäre …