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Freitag, 4. Januar 2013

Lichtenberg über Menschen, die bloß lesen, um nicht denken zu dürfen


Falsche Zitate werden nicht richtiger, nur weil sie aus berufenem Munde kommen, wie dieses:
Manche Menschen lesen bloß, um nicht zu denken.*
Das ist doch ein Unterschied zu dem, was Georg Christoph Lichtenberg (nicht ein G. G. Lion, wer immer das auch sein mag, ein – aua – Georg Christoph Lerchenberg, eine Lebensweisheit oder eine Redensart) wirklich gesagt hat:
Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht  denken dürfen.
(In Vermischte Schriften, 1817, S. 120)
Da viele Leser über das dürfen gestolpert sind, gibt es auch diese Versionen:
Es gibt sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht zu denken brauchen.
Es gibt viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht zu denken brauchen.
Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht denken brauchen.
Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht zu denken brauchen.
Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht denken müssen.
Jemand hat es sich ganz einfach gemacht und geschrieben:
Es gibt wirklich sehr viele Menschen, die bloß lesen, damit sie nicht denken dürfen. (brauchen/müssen!). 
Nun ja, er hätte ruhig ein bisschen recherchieren müssen (brauchen/dürfen!).

Und derjenige, der geschrieben hat:
Es gibt wirklich nicht sehr viele Menschen, die bloss lesen, damit sie nicht denken dürfen
muss ein Menschenfreund sein …

– Es muss wirklich einmal gesagt werden: Ich begreife nicht, warum sich Zitatenseiten mit einer Sammlung von über fünftausend Zitaten brüsten, aber nicht in der Lage sind, Zitate korrekt wiederzugeben. –

 * Nicht böse sein, lieber Denis Scheck. Ich habe vor Jahren mal an einem Seminar an der Bundesakademie für kulturelle Bildung mit Ihnen als Workshopleiter teilgenommen, bei dem ich viel gelernt habe, zum Beispiel, dass man mit dem Wort Springerstiefel in einem objektiven Bericht eine Wertung vornimmt, die dort nicht angebracht ist.

Sonntag, 16. Dezember 2012

Gemeinfreie Autoren ab dem 1. 1. 2013

Hurra, diese Autoren werden ab dem 1. Januar 2013 gemeinfrei und dürfen unbedenklich zitiert werden:

Robert Musil
Stefan Zweig
Neel Doff
Tatu Vaaskivi
Artturi Järviluoma
Léon Daudet
Peadar Toner Mac Fhionnlaoich
Janusz Korczak
William Pierpont Black
Terézia Vansová
Ramon Casas i Carbó
Wilhelm Peterson-Berger
Ernest Bramah
Violet Hunt

(http://www.publicdomainday.org/node/39)

Samstag, 17. November 2012

Gertrude Stein und der schöpferische Geist des Jahrhunderts

Ein sehr selbstbewusstes Zitat von Gertrude Stein lautet:

Einstein war der schöpferische philosophische Geist des Jahrhunderts und ich bin der schöpferische literarische Geist des Jahrhunderts.

Auch:

Einstein war der schöpferische Geist der Philosophie des Jahrhunderts und ich war der schöpferische Geist der Literatur des Jahrhunderts.

 Einstein was the creative philosophic mind of the century and I have been the creative literary mind of the century

Aber hat sie das wirklich so gesagt? Leider ist der Satz unvollständig, außerdem ist er aus dem Zusammenhang gerissen. Denn tatsächlich sagte sie:
Die Malerei war im neunzehnten Jahrhundert französisch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde sie Spanisch Spanisch in Frankreich aber noch Spanisch, und Philosophie und Literatur haben dieselbe Tendenz. Einstein war der schöpferische philosophische Geist des Jahrhunderts und ich bin der schöpferische literarische Geist des Jahrhunderts geworden, so wie sich das Orientalische mit dem Europäischen vermischt.

Painting in the nineteenth century was French at the end of the nineteenth century it had become Spanish Spanish in France but still Spanish, and philosophy and literature had the same tendency. Einstein was the creative philosophic mind of the century and I have been the creative literary mind of the century also with the Oriental mixing with the European.
(In Everybody’s Autobiography (Jedermanns Autobiographie). Exact Change 1993, S. 22)

Mittwoch, 7. November 2012

Jünger über Komparative und Superlative oder: Welcher Jünger hat das gesagt?

Das Zitat
Wer seinen Gegenstand nicht beherrscht, der macht von Komparativen und Superlativen reichlich Gebrauch,
ist Friedrich Georg Jünger und nicht von dessen Bruder Ernst Jünger.

(Quelle: Gedanken und Merkzeichen. Klostermann 1949, S. 22)

Dienstag, 6. November 2012

Das Mittelmaß ist stets in Höchstform – von wem? Maugham, Beerbohm, Giraudoux, Paisset, Oscar Wilde oder Jean Todt?


Es ist ein Kreuz mit den Zitaten. Da wollte ich nur dieses Zitat von William Somerset Maugham einstellen:
Nur ein mittelmäßiger Literat ist immer in Höchstform,

Only a mediocre writer is always at his best,

Seul un écrivain médiocre est toujours à son meilleur niveau (auch Seuls les médiocres peuvent toujours donner le meilleur d'eux-mêmes und Seuls les médiocres sont toujours présents)

(In The Portable Dorothy Parker. Viking Press 1944; zitiert nach The Yale Book of Quotations. Yale University Press, 2006, S. 502),
und stellte fest, dass Max Beerbohm in der Saturday Review vom 5. 11. 1904 bereits etwas ähnliches gesagt hatte:
Nur dem Mittelmaß kann man vertrauen, dass es stets in Höchstform ist. Das Genie muss im Verhältnis zu seinem Erfolg immer verfallen.

Only mediocrity can be trusted to be always at its best. Genius must always have lapses proportionate to its triumphs.

(Zitiert nach The Yale Book of Quotations. Yale University Press 2006, S. 50; die Originalausgabe der Saturday Review ist noch nicht digitalisiert).
Okay, da hat der gute Maugham sich von Beerbohm inspirieren lassen. Beim weiteren Nachforschen fragte ich mich jedoch: Bei wem eigentlich? Denn Jean Giraudoux soll laut Wikiquote gesagt haben:
Seuls les médiocres sont toujours leur meilleur.

Only the mediocre are always at their best (auch The only people who are always at their best are invariably mediocre).
Nur dass die sonst so korrekte Wikiquote das Zitat als belegt betrachtet und als Quellennachweis angibt: „As quoted in The Beauty Principal (1984) by Victoria Principal, p. 117“, was eben kein Beleg ist.

Und so ärgerte ich mich mal wieder, dass ich im Französisch-Unterricht nicht richtig aufgepasst hatte, und versuchte mit Hilfe von Google-Übersetzer, das Originalzitat von Giraudoux samt Quellenangabe zu finden. Beides fand ich nicht. Dafür aber eine Version von Jean Todt (natürlich auch ohne Quelle – *Achtung OT* wäre ja auch ein Wunder, wenn irgendjemand mal korrekt zitieren würde. Sorry, aber langsam werde ich echt sauer. Wieviel Mühe und Zeit könnte ich mir sparen; ich könne Verlorene Liebe und Mitten im Leben gucken zum Beispiel, andererseits gäbe es dann dieses Blog nicht, und der macht mir sehr viel Spaß … *OT aus*):
Seuls les médiocres atteignent leur maximum (auch Seuls les médiocres n'y arrivent pas).
Ich fand auch noch die Version Seuls les médiocres sont à 100% mit der Urheberangabe Saisset. Ob damit Émile Saisset, Bernard Saisset oder ein ganz anderer Saisset gemeint ist, konnte ich nicht feststellen.

Da Maugham von 1874 bis 1965 lebte und Beerbohm von 1872 bis 1956, dieser aber seine weisen Worte bereits 1904 veröffentlicht hatte und Maugham erst 1944, ist anzunehmen, dass das Ursprungszitat von Beerbohm stammt. Giraudoux lebte zwar etwa um die gleiche Zeit (1882–1944), aber da es keine Quelle gibt, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass er der Urheber ist. Ebenso bei der Verfasserangabe „Paisset“, aus der nicht hervorgeht, welcher Paisset damit gemeint ist. Jean Todt, der 1946 geboren wurde, ist es definitiv nicht.

(Siehe dazu auch http://harvardmagazine.com/2007/03/chapter-verse.html, May–June 2007, und http://cojcr.org/vol9no1/1-90.pdf)

Schließlich fand ich hier noch einen Ausspruch von Oscar Wilde:
Seuls les médiocres progressent
(in La Poésie des Socialistes; Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus; The Soul of Man under Socialism), aber weder im Englischen noch im Deutschen die entsprechende Übersetzung. Ich fand nur
Jeder Erfolg, den man erzielt, schafft uns einen Feind. Man muß mittelmäßig sein, wenn man beliebt sein will (auch Um populär zu bleiben, muß man mittelmäßig sein),

Every effect that one produces gives one an enemy. To be popular one must be a mediocrity,

Chaque fois qu’on produit un effet, on se donne un ennemi. Il faut rester médiocre pour être populaire,
doch dieses Zitat ist aus dem Bildnis des Dorian Gray (The Picture of Dorian Gray; Le portrait de Dorian Gray) S. 410 und hat mit dem Zitat, um das es hier geht, wohl nichts zu tun.

Samstag, 3. November 2012

Schlegel über Schriftstellerei oder: welcher Schlegel hat das gesagt?

Das Zitat
Die Schriftstellerei ist, je nachdem man sie treibt, eine Infamie, eine Ausschweifung, eine Tagelöhnerei, ein Handwerk, eine Kunst, eine Wissenschaft und eine Tugend
ist von August Wilhelm von Schlegel und nicht von Karl Wilhelm Friedrich von Schlegel.

(Quelle: Über Litteratur und Kunst (Aus Vermischte und kritische Schriften. Weidmann’sche 1846, S. 13; http://www.zeno.org/Literatur/M/Schlegel,+Friedrich/Fragmentensammlungen/Fragmente)

(Das vollständige Zitat siehe http://juttas-schreibblog.blogspot.de/2008/10/neues-aus-dem-zitatekstchen-bers.html)

Freitag, 2. November 2012

Betrifft: William Faulkner

Das kann doch nicht wahr sein: Wegen der Verwendung des Zitats „Das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen" (The past is never dead. It's not even past) von William Faulkner aus seinem Roman Requiem für eine Nonne (Requiem for a Nun) aus dem Jahr 1951 in Woody Allens Komödie Midnight in Paris reicht die Nachlassverwaltung Klage ein (mehr dazu siehe http://www.dradio.de/kulturnachrichten/201210270800/4)

Sonntag, 2. September 2012

„Der Unterschied zwischen Aufgewecktheit und Scharfsinn ist derselbe wie zwischen dem Glühwürmchen und dem Blitz“ – von wem?


Ein Zitat, angeblich von Mark Twain, lautet:
Einige verwechseln Aufgewecktheit mit Scharfsinn; der Unterschied zwischen Aufgewecktheit und Scharfsinn ist derselbe wie zwischen dem Glühwürmchen und dem Blitz.
(Übersetzung laut http://de.wikiquote.org/wiki/Scharfsinn)
Some folks mistake vivacity for wit; whereas the difference between vivacity and wit is the same as the difference between the lightning-bug and the lightning.
und als Quelle wird Albert Bigelow Paine: Mark Twain: A Biography, Chapter LXXXIII: Lecturing Days genannt (http://classiclit.about.com/library/bl-etexts/apaine/bl-apaine-mtwain-83.htm).

(zu dem Ausspruch "Der Unterschied zwischen dem beinahe richtigen Wort und dem richtigen Wort ist wirklich eine große Sache – es ist der Unterschied zwischen dem Glühwürmchen und dem Blitz" (The difference between the almost right word and the right word is really a large matter—’tis the difference between the lightning bug and the lightning) siehe http://juttas-schreibblog.blogspot.de/2011/02/uber-mark-twains-gluhwurmchen-und.html

Tatsächlich aber schreibt Paine dort unter anderem über die ungewöhnliche Ausdrucksweise des US-amerikanischen Humoristen Josh Billings, der zu seiner Zeit beliebter war als Mark Twain:
An assumed illiteracy belonged with the side of life which he [Billings] presented; but it is pathetic now to consider some of the really masterly sayings of Josh Billings presented in that uncouth form which was regarded as a part of humor a generation ago. Even the aphorisms that were essentially humorous lose value in that degraded spelling.
"When a man starts down hill everything is greased for the occasion," could hardly be improved upon by distorted orthography, and here are a few more gems which have survived that deadly blight.
"Some folks mistake vivacity for wit; whereas the difference between vivacity and wit is the same as the difference between the lightning-bug and the lightning." (kursiv jmw)
"Don't take the bull by the horns-take him by the tail; then you can let go when you want to."
"The difficulty is not that we know so much, but that we know so much that isn’t so."
 Nur stimmt das so nicht ganz, denn Bilings Zitat lautet korrekt:
Don’t mistake vivacity for wit, thare iz about az much difference az thare iz between lightning and a lightning bug.
(In Josh Billings’ Old Farmer’s Allminax, January 1871  http://www.gutenberg.org/files/40191/40191-0.txt)
Mark Twain zitiert wiederum Paine in seiner Geschichte Frank Fuller and My First New York Lecture  (zu Frank Fuller siehe http://www.twainquotes.com/FullerRevisited.html
Another good fellow—good as ever was. He [Billings] too was a great card on the lecture platform in those days; and his quaint and pithy maxims were on everybody's tongue. He said "Some folks mistake vivacity for wit; whereas the difference between vivacity and wit is the same as the difference between the lightning-bug and the lightning." And he said, "Don't take the bull by the horns, take him by the tail, and then you can let go when you want to." Also he said, "The difficulty ain't that we know so much, but that we know so much that ain't so."
(http://online.wsj.com/article/SB123981266777021549.htm)
Das Zitat Some folks mistake vivacity for wit; whereas the difference between vivacity and wit is the same as the difference between the lightning-bug and the lightning ist also eine falsche Wiedergabe von Billings Worten durch Paine. Mark Twain jedenfalls hat es so nicht gesagt.

Montag, 20. August 2012

Jean Paul über das Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann


Einer der ersten Sprüche, die ich in meinen Tagebüchern notierte, lautete (und damit bin ich in illustrer Gesellschaft, denn auch Thomas Mann schrieb am 14. 5. 1888 diesen Spruch von Jean Paul in das Poesiealbum von  Johanna Bussenius, der Tochter des Leiters seines Gymnasiums, siehe hier und hier, allerdings wird das Zitat in beiden Büchern unterschiedlich zitiert):

„Erinnerungen sind  das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“

Auch

Das Gedächtnis ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nie vertrieben werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht getrieben [sic] werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht vertrieben werden können.
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, daraus wir nicht vertrieben werden können!
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können.
Erinnerung ist das Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.

Imagination is the only paradise from which we cannot be expelled.
Memories are the only paradise from which we cannot be expelled.
Memory is the only paradise from which we cannot be expelled
Our memory is the only paradise from which we cannot be expelled
Recollection is the only paradise from which we cannot be turned out.
Remembrance is the only paradise from which we cannot be expelled.
The memory is the only paradise from which we can not be expelled.
The memory is the only paradise from which we cannot be driven away.
The only Paradise from which we cannot be expelled is the Memory.

El recuerdo es el único paraíso del que no podemos ser expulsados.
La imaginación es el único paraíso del que no podemos ser expulsados.
La memoria es el único paraíso del que no podemos ser expulsados.

Und nun, etliche Jahre später und viele falsche Zitierweisen weiter, überlege ich, ob Jean Paul (nicht „unbekannt“, ein weiser Rabbi oder zugeschrieben und auch nicht von Blaise Pascal, Michael de Montaigne oder Novalis, die gern für gute Sprüche herhalten müssen, aber auch nicht von Dietrich Bonhoeffer,  der bei Traueranzeigen gern als Urheber genannt wird) es wirklich so gesagt hat. Die Antwort ist einmal mehr nein. Denn richtig lautet das Zitat, was vermutlich kaum einer weiß:
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können. Sogar die ersten Eltern waren nicht daraus zu bringen.
(Impromtü’s, welche ich künftig in Stammbücher schreiben werde. (1811.) 29. Erinnerung. In Jean Paul’s sämmtliche Werke. Reimer 1838, S. 159; als Quelle wird auch sein Roman Die unsichtbare Loge aus den Jahr 1793 genannt, ich habe es aber dort trotz der irgendwo angegebenen Quellenangabe „1, 13“ (= 1. Teil, 13. Sektor?) nicht gefunden. 

Nach anderen Versionen, unter anderem ebenfalls eine aus dem Jahr 1811, lautet es:
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können. Sogar die ersten Ältern waren nicht daraus zu vertreiben. (Zeitung für die elegante Welt Berlin, S. 1556)
Ob das auch eine Version Jean Pauls ist oder er nur falsch zitiert wurde, konnte ich leider nicht feststellen.

Die Version ohne den Zusatz mit den Eltern, also nur in der Form
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können, 
wurde, warum auch immer, zuerst 1812 im Cotta’schen Taschenbuch für Damen gedruckt. Vielleicht weil die Damen als Mütter so etwas nicht in Stammbücher oder Poesiealben schreiben würden. (Zitiert nach Karl Kraus Frühe Schriften: Erläuterungen. Suhrkamp 1988, S. 141)

– Kleines Schmankerl am Rande: In diesem Blatt ließ Goethe (O-TonDas ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen …“) mit den Worten „Beykommendes wünsche für den Damenkalender geeignet!“ zehn Jahre lang Ausschnitte aus  seinem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre als Teil seiner Verkaufsstrategie(!) vorabdrucken (mehr dazu siehe  http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/wanderjahre_bunzel.pdf). –

Gar nicht auszumalen, wie viele Autoren so manche Zeilen gar nicht geschrieben hätten, weil sie sich mit Jean Pauls Worten auseinandersetzten, wenn allein die vollständige Version überliefert worden wäre …

Freitag, 17. August 2012

Walter Benjamin über "Romane lesen"

Nicht immer wird etwas falsch zitiert, weil das Zitat nicht kontrolliert wurde oder es eine Übersetzung ist. Manchmal findet man auch unterschiedliche Zitierweisen bei einem Autor.

So schreibt Walter Benjamin zum Thema Romane lesen – und das ist die bekanntere Version – in Denkbilder, Suhrkamp 1974:
Nicht alle Bücher lesen sich auf die gleiche Art. Romane zum Beispiel sind dazu da, verschlungen zu werden. Sie lesen ist eine Wollust der Einverleibung. Das ist nicht Einfühlung. Der Leser versetzt sich nicht an die Stelle des Helden, sondern er verleibt sich ein, was dem zustößt. Der anschauliche Bericht davon aber ist die appetitliche Ausstaffierung, in der ein nahrhaftes Gericht auf den Tisch kommt. (S. 136; siehe auch Illuminationen http://www.textlog.de/benjamin-romane-lesen-kleine-kunst-)stuecke.html)
In Gesammelte Schriften, IV .2. vom gleichen Verlag, nur zwei Jahre früher (1972) erschienen, schreibt er dagegen:
Nicht alle Bücher lesen sich auf die gleiche Art. Romane jedenfalls sind dazu da, verschlungen zu werden. Sie lesen, ist eine Wollust der Einverleibung. Und damit etwas von Grund auf anderes als man gewöhnlich darin erblickt: nämlich keinerlei Einfühlung. Der Leser versetzt sich nicht an die Stelle der Hauptfigur, sondern er verleibt sich ein, was ihr zustößt. Der anschauliche Bericht davon aber ist die appetitliche Ausstaffierung, in der ein nahrhafter Gang auf den Tisch kommt. (S. 1014)
Merkwürdig. Und ich kann noch nicht einmal sagen, welche Version mir besser gefällt.

Sonntag, 12. August 2012

Friedrich der Große darüber, dass die Bürger die Hälfte des jährlichen Einkommens mit dem Staat teilen müssen oder Wie man aus zwei Zitaten eines macht


Dieses Zitat von Friedrich dem Großen sollte sich jede Regierung ins Stammbuch schreiben:
Eine Regierung muss sparsam sein, weil das Geld, das sie erhält, aus dem Blut und Schweiß ihres Volkes stammt. Es ist gerecht, dass jeder einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staates tragen zu helfen. Aber es ist nicht gerecht, dass er die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Staate teilen muss.
Nur leider hat der alte Fritz das so gar nicht gesagt. Der Volksmund oder wer auch immer hat nämlich aus zwei Zitaten eines gemacht, wohl weil es eingängiger ist.

Tatsächlich hatte der König von Preußen in seinem politischen Testament aus dem Jahr 1752 gesagt:
Ich glaube, es ist für den Herrscher ebensowenig ratsam, geizig wie verschwenderisch zu sein. Er soll vielmehr sparsam und freigebig sein. Sparsam, well er die Güter des Staates verwaltet, well das Geld, das er empfängt, Blut und Schweiß des Volkes ist und er es zum Besten des ganzen Staatskörpers verwenden muß.
(Soll ein Fürst geizig oder verschwenderisch sein? In Die Werke Friedrichs des Großen: in deutscher Übersetzung, S. 151)
In seinem politischen Testament aus dem Jahr 1768* schrieb er:
Hier eine andere wichtige Frage: es handelt sich um Steuern. Soll man  dabei das Staatswohl oder das Wohl des Einzelnen voranstellen, und welchen Entschluß soll man fassen? Ich antworte: Der Staat besteht aus lauter Privatleuten, und das Wohl des Herrschers deckt sich mit dem seines Volkes. Der Hirt schert seine Schafe, zieht ihnen aber nicht das Fell ab. Also ist es  recht und billig, daß jeder Privatmann zu den Staatskosten beiträgt, aber er  soll nicht sein halbes Einkommen mit dem Herrscher teilen.
(Volkswirtschaft. In Das Politische Testament Friedrichs d. Gr. von 1768, S. 113)
Eine andere Übersetzung, denn Friedrich II. verfasste seine Schriften natürlich in Französisch, lautet:
Muss man in Bezug auf die Steuern das Wohl des Staates oder das Wohl des Einzelnen vorziehen oder welche Partei soll man nehmen? Ich antworte: dass der Staat aus Einzelnen ,zusammengesetzt ist und es nur ein einziges Wohl gibt für den Souverän und seine Untertanen. Die Hirten scheren ihre Schafe, aber sie ziehen ihnen nicht die Haut ab. Es ist gerecht, dass jeder Einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staates tragen zu helfen, aber es ist gar nicht gerecht, dass er die Hälfte seines jährlichen Einkommen mit dem Souverän teilt.
(Quelle http://www.potsdamer-buergerzeitung.de/gesellschaft/das%20politische%20testament_friedrich.html)
*Für diese Überarbeitung des politischen Testaments von 1752 im November 1768 galt auf „allerhöchste Erschließung“ im Jahr 1842 der königlichen Familie ein Abdruckverbot. Die beiden politischen Testamente wurden erst 1920 von Gustav Berthold Volz vollständig veröffentlicht. Beide Testamente waren für Friedrichs Nachfolger gedacht, waren also keine weisen Worte für die Nachwelt.

Mittwoch, 1. August 2012

Wenn der Druckfehlerteufel zuschlägt

Peinlich ist es, wenn man ein Zitat irgendwoher aus dem Internet falsch übernimmt, obwohl einem sofort der Fehler auffallen müsste wie bei diesem Zitat von Peter Panter (Kurt Tucholsky):
Im Bett soll man nur leichte und unterhaltene Lektüre zu sich nehmen, sowie spannende und beruhigende, ferner ganz schwere, wissenschaftliche und frivole sowie mittelschwere und jede sonstige, andere Arten aber nicht. 
(In Wo lesen wir unsere Bücher? http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1930/Wo+lesen+wir+unsere+B%C3%BCcher%EF%BC%9F
Noch peinlicher ist allerdings, wenn man später die Quelle sucht, und immer noch den Fehler nicht sieht … Denn richtig heißt es natürlich:
Im Bett soll man nur leichte und unterhaltende Lektüre zu sich nehmen sowie spannende und beruhigende, ferner ganz schwere, wissenschaftliche und frivole sowie mittelschwere und jede sonstige, andere Arten aber nicht.

Dienstag, 31. Juli 2012

Aus der Rubrik: Sie haben es nie gesagt“: Jean Paul über Komma, Punktum und Sinn

Der Mundartdichter Fritz Reuter zitiert in Ein gräflicher Geburtstag Jean Paul:

"Jean Paul’s Regel für die Interpunktion: Wenn der Sinn halb aus ist, machst du ein Komma, wenn der Sinn ganz aus ist, machst du ein Punktum, und wenn du etwas geschrieben hast, worin gar kein Sinn ist, kannst du Komma und Punktum setzen, wo du willst; diese Regel sage ich, leidet hier durchaus keine Anwendung."

(In Meklenburgisches Volksbuch. Reclam 1905, S. 147)

Nur leider irrt Fritz Reuter, und das gleich zweifach. Denn das Zitat ist von Matthias Claudius und lautet richtig: 
Sieht Er, Andres, wo der Verstand halb aus ist, setzt Er ein Komma; wo er ganz aus ist, ein Punctum, und wo gar keiner ist, kann Er setzen, was Er will, wie Er auch in vielen Schriften findet, die herauskommen. 
(In Asmus omnia sua secum portans (Über das Genie) http://tinyurl.com/cxdrct4)
Vollständig lautet Fritz Reuters Zitat:
Ich mache hier darauf aufmerksam, daß die beiden angeführten Festlieder* wörtlich von mir copirt sind, und daß ich auch in der Interpunction nichts geändert habe, die in solchen exaltirten, gleichsam übersinnlichen Formen sich wohl einen großen Luxus von Zeichen, namentlich von Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen erlauben darf. Jean Paul’s Regel für die Interpunction: Wenn der Sinn halb aus ist, machst du ein Komma, wenn der Sinn ganz aus ist, machst du ein Punctum, und wenn du etwas geschrieben hast, worin gar kein Sinn ist, kannst du Komma und Punktum setzen, wo du willst; diese Regel sage ich, leidet hier durchaus keine Anwendung.

* Insbesondere das Lied mit dem Anfang „Oh fühlt’s! wie strahlend reicher Segen“ aus der Oper „Die Stumme von Portici“ von Daniel François Esprit Auber.

Samstag, 28. Juli 2012

Aus der Rubrik „Sie haben es nie gesagt“: Wahrhaftigkeit und Politik wohnen selten unter einem Dach

Ein beliebtes Zitat, das häufig der französischen Königin Marie Antoinette zugeschrieben wird, lautet

Wahrhaftigkeit und Politik wohnen selten unter einem Dach

Nur sind weder das Zitat noch die Verfasserangabe richtig.

Das Zitat ist aus Stefan Zweigs Werk Marie Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters und lautet richtig:
Die Geschichte der Königin Marie Antoinette schreiben, heißt einen mehr als hundertjährigen Prozeß aufnehmen, in dem Ankläger und Verteidiger auf das heftigste gegeneinander sprechen. Den leidenschaftlichen Ton der Diskussion verschuldeten die Ankläger. Um das Königtum zu treffen, musste die Revolution die Königin angreifen, und in der Königin die Frau. Nun wohnen Wahrhaftigkeit und Politik selten unter einem Dach, und wo zu demagogischem Zweck eine Gestalt gezeichnet werden soll, ist von den gefälligen Handlangern der öffentlichen Meinung wenig Gerechtigkeit zu erwarten. (S. 7; kursiv jmw)