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Montag, 9. Mai 2011

Über ein weites Feld


„Das ist ein weites Feld“ – wer kennt nicht diese Redewendung? Google findet dafür 775.000 Treffer. Die Biomechanik, das Dating, die Landwirtschaft der Ukraine, die Europäsierung und und und – alle sind ein weites Feld.

Auch die Welt der Zitate. Gefühlt jedes zweite Zitat, das ich irgendwo finde, ist falsch. Da werden Worte aus dem Zusammenhang gerissen, Wörter geändert, falsche Autoren genannt und was man noch so alles falsch machen kann. Und einer schreibt vom anderen ab. Und viel zu viele Zitatensammlungen nehmen Zitate ungeprüft auf und werden trotzdem als Quelle für Zitate genannt.

Aber darüber wollte ich hier gar nicht schreiben. Mir geht es wieder einmal darum: Wer hat diese Worte geprägt?

Bekannt geworden sind sie durch Theodor Fontanes Schlusssatz von Effi Briest:
Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schüttelte den Kopf langsam hin und her, und Briest sagte ruhig „Ach, Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.“
– Überhaupt ist diese Redewendung einer von Briests Lieblingssätzen: So sagt er unter anderem zu Luise: „Nein, gewiß nicht; jedenfalls wollen wir darüber nicht streiten; es ist ein weites Feld“ und zu Effi: „Glaube mir, Effi, das ist auch ein weites Feld.“ –

Und durch Günter Grass, der „Ein weites Feld" als Titel für seinen Roman wählte, in dem er die Zeit der 1848er Revolution und das Leben Theodor Fontanes mit der Zeit um 1989 und dem Leben des DDR-Bürgers Theo Wuttke verbindet, der wegen seiner Vorliebe für Fontane „Fonty“ genannt wird und dessen Lebensgeschichte die Fontanes spiegelt. Und er machte den offenen Schluss von Fontanes Effi Briest zu einen unwiderruflichen (auf die berühmten drei Punkte mochte aber auch er nicht verzichten):
Mit ein wenig Glück erleben wir uns in kolossal menschenleerer Gegend. La petite trägt mir auf, das Archiv zu grüßen, ein Wunsch, dem ich gern nachkomme. Wir gehen oft in die Pilze. Bei stabilem Wetter ist Weitsicht möglich. Übrigens täuschte sich Briest; ich jedenfalls sehe dem Feld ein Ende ab …
Aber schon Adalbert Stifter schrieb in seinem Roman Nachsommer:
„Das ist ein weites Feld, von dem Ihr da redet“, sagte ich, „und da steht der menschlichen Erkenntnis ein nicht unwichtiger Gegenstand gegenüber. Er beweist wieder, daß jedes Wissen Ausläufe hat, die man oft nicht ahnt, und wie man die kleinsten Dinge nicht vernachlässigen soll, wenn man auch noch nicht weiß, wie sie mit den größeren zusammenhängen. So kamen wohl auch die größten Männer zu den Werken, die wir bewundern, und so kann mit Hereinbeziehung dessen, von dem Ihr redet, die Witterungskunde einer großen Erweiterung fähig sein.“  
Der Schüler in Johann Wolfgang von Goethes Faust I spricht  von „Drei Jahr ist eine kurze Zeit, / Und, Gott! Das Feld ist gar zu weit. / Wenn man einen Fingerzeig nur hat, / Lässt sich's schon eher weiter fühlen.“

Christian Fürchtegott Gellert schreibt:
In welchem Range auch der Mensch geboren wird, so richtet sich die öffentliche Ächtung doch allemal nach den Diensten, welche er dem Vaterlande leistet. Worin unsere Pflichten auch bestehen mögen, so ist es doch gewiß, daß sie ein weites Feld für unsere Tugend sind.
(zitiert nach Dr. Johann Georg Krünitz’s ökonomisch-technologische Encyclopädie. Paulische Buchhandlung 1832, 128)
und Andreas Gryphius lässt in der Absurda Comica. Oder Herr Peter Squentz, die 1657 erschien, den Titelhelden sagen:
Ja es ist noch in weitem feld. Wir wissen noch nicht, ob wir bestehen werden. Vielleicht machen wir eine sau und kriegen gar nichts; darum ist es am besten, ich folge meinem kopff und gebe ihm den titul: ein schön spiel, lustig und traurig zu tragiren und zu sehen.
Ob sich Fontane von Stifter, Gellert, Goethe oder Gryphius inspirieren ließ, wissen wir nicht. Er hätte das weite Feld aber auch der Schrift Vom glücklichen Leben (De Vita beata) XXII von Lucius Annaeus Seneca dem Jüngeren entnehmen können:
Kann aber ein Zweifel sein, daß ein Weiser im Reichtume größere Mittel besitzt seine Gesinnung zu entfalten, als in der Armut? da ja bei dieser nur die eine Seite der Tugend sich äußern kann, sich nicht beugen und niederdrücken zu lassen, im Reichtum aber die Mäßigung, die Freigebigkeit, die Wirtschaftlichkeit, die gute Einteilung und die Großherzigkeit sich ein weites Feld eröffnet sieht.

Quid autem dubii est, quin haec maior materia sapienti viro sit animum explicandi suum in divitiis quam in paupertate, cum in hac unum genus virtutis sit non inclinari nec deprimi, in divitiis et temperantia et liberalitas et diligentia et dispositio et magnificentia campum habeat patentem?
oder von Marcus Tullius Ciceros Brief an seinen Bruder:
Die Freigebigkeit ist ein weites Feld. So manifestiert sich in der Verwendung des Vermögens, was zwar nicht der Masse zugute kommt, aber doch von den Freunden gepriesen wird und bei der Masse Eindruck macht, manifestiert sich in den Gastereien, die von Dir und Deinen Freunden bald hier, bald da tributweise veranstaltet werden müssen; manifestiert sich auch in Deinen Diensten. Die leiste überall und jedermann, und laß es Deine Sorge sein, daß der Zutritt zu Dir Tag und Nacht frei ist, und nicht allein am Eingang Deines Hauses, sondern auch an Gesicht und Stirn, den Pforten zu Deinem Herzen; wenn sie anzeigen, daß der gute Wille sich zurückgezogen und eingekapselt hat, dann hilft es wenig, wenn Deine Haustür offensteht. (http://www1.ku-eichstaett.de/SLF/Klassphil/dl/1968-2.txt); Denkschrift über die Bewerbung um das Konsulat, Quintus grüßt seinen Bruder Marcus 44)

Benignitas autem late patet*: est in re familiari, quae quamquam ad multitudinem pervenire non potest, tamen ab amicis laudatur, multitudini grata est; est in conviviis, quae fac ut et abs te et ab amicis tuis concelebrentur et passim et tributim; est etiam in opera, quam pervulga et communica, curaque ut aditus ad te diurni nocturnique pateant, neque solum foribus aedium turarum, sed etiam vultu ac fronte, quae est animi ianua, quae si significat voluntatem abditam esse ac retrusam, parvi refert patere ostium (…)
(In Commentariolum Consulatus Petitionis aut Epistula Q. Ciceronis De Petitione Consulatus Ad M. Fratrem)
Vielleicht hat sich ja Seneca bei Cicero bedient. Vielleicht prägte aber auch ein alter Grieche vor ihnen die Redewendung. Wer will das wissen. Die Welt der Zitate und Redewendungen ist nun mal ein weites Feld …

*übtr., late patere, sich weit erstrecken, weit verzweigt sein, einen weiten Spielraum haben, eine weite Anwendung finden

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