Seiten

Montag, 27. Juni 2011

Über ein Zitat Victor Hugos, das ein Eigenleben bekommt hat


Es gibt es Zitate, die bekommen ein Eigenleben. Sie sind offenbar so eindrucksvoll, dass Wörter beim Weitergeben umgestellt, geändert, gestrichen oder zugefügt werden, bis niemand mehr weiß, welches das Originalzitat ist.

Genau das ist mit einem Zitat von Victor Hugo geschehen, dem Zitat

„On peut résister à l’invasion d'une armée mais pas à celle d’une idée dont le temps est venu.“ (Man kann der Invasion eine Armee widerstehen, doch nicht einer Idee, deren Zeit gekommen ist)

Nur: Hugo hat gar nicht „dont le temps est venu“ („deren Zeit gekommen ist“ – „whose time has come“) gesagt. Dieser Zusatz – den ich, wie ich zugeben muss, besser finde als das Originalzitat; Monsieur Hugo möge mir verzeihen – hat das Suchen nach dem Originalzitat zu einer Sisyphus-Arbeit gemacht, zumal Wikisource verlautet, dass es ihm fälschlich zugeschrieben wird. Aber ich habe es dann doch noch gefunden. Tatsächlich lautet es:

„On résiste à l'invasion des armées; on ne résiste pas à l'invasion des idées.“ (Man kann der Invasion von Armeen Widerstand leisten, aber keiner Invasion von Ideen)

und ist aus Histoire d'un crime – Déposition d'un Témoin, S. 600.*

Weitere französische Versionen, die ich gefunden habe (wahrscheinlich existieren noch viel mehr), sind:
Il y a une chose plus forte que toutes les armées du monde, c’est une idée dont le temps est venu.
Même une armée ne peut rien contre une idée dont le temps est venu.
On peut arrêter une armée enim marche mais on n'arrête pas une idée dont l’heure est venue.
On peut résister à l’invasion d'une armée mais pas à celle d’une idée dont le temps est venu.
On peut résister a une armee mais jamais a une idee dont le temps est venu.
Quoi de plus fantastique qu'une idée dont le temps est venu.
Rien n’arrête une idée dont le temps est venu.
Rien n’est plus fort qu'une idée dont le temps est venu.
Rien n’est plus puissant dans le monde qu'une idée dont le temps est venu.
Une idée dont l’heure est venue est plus.
Im Deutschen gibt es unter anderem diese Versionen:
Der Invasion von Armeen kann Widerstand geleistet werden, nicht aber einer Idee, deren Zeit gekommen ist.
Doch nichts wirkt so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Einer Invasion von Armeen kann man Widerstand leisten, aber keiner Idee, deren Zeit gekommen ist.
Es gibt etwas, das stärker ist als alle Armeen der Welt, und das ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Es gibt nichts Mächtigeres auf der Welt als eine Idee deren Zeit gekommen ist.
Etwas ist stärker als alle Armeen der Welt: eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Gegen die Invasion einer Armee kann man sich verteidigen, gegen die Invasion einer Idee gibt es keine Verteidigung.
Keine Armee der Welt kann sich der Macht einer Idee widersetzen, deren Zeit gekommen ist.

Man kann einer eindringenden Armee Widerstand leisten; doch man kann nicht einer Idee widerstehen, deren Zeit gekommen ist.
Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Nichts ist mächtiger als eine Idee zur richtigen Zeit.
Stärker als die Macht aller Armeen auf der Erde ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Und nichts ist weniger aufzuhalten, wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Was gibt es Schöneres, als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Eine allgemeingültige deutsche Übersetzung habe ich nicht gefunden.

Im Englischen ist das Zitat in einer Übersetzung der Schrift von T. H. Joyce & A. Locker belegt:

„An invasion of armies can be resisted; an invasion of ideas cannot be resisted.“ (S. 683)

Weitere Versionen lauten:
An invasion of armies can be resisted; an invasion of ideas cannot be resisted.
Armies cannot stop an idea whose time has come.
More powerful than the might of all the armies on Earth is an idea whose time has come.
No army can stop an idea whose time has come.
No one can resist an idea whose time has come.
Nothing is as powerful as an idea whose time has come.
Nothing is stronger than an idea whose time has come.
One can resist an army, but never an idea whose time has come
One cannot resist an idea whose time has come.
One resists the invasion of armies; one does not resist the invasion of ideas.
One withstands the invasion of armies; one does not withstand the invasion of ideas).
There is one thing stronger than all the armies in the world, and that is an idea whose time has come.
We resist the invasion of armies, but we do not resist the invasion of ideas.
*Die Geschichte eines Verbrechens; The History of a Crime; angeblich auch(?) aus L'homme qui rit (Der lachende Mann); einen Beleg dafür habe ich nicht gefunden.

Donnerstag, 23. Juni 2011

Über den bösen Nachbarn


Wir alle sind Nachbarn, und wir alle sind jemandes Nachbar (eigentlich Nahebauer; von nahe und Bauer im Sinne von bauen, wohnen, also Nahewohner, Anwohner: jemand, der zu nahe baut). Und deshalb spielt der Nachbar auch eine große Rolle im Sprichwort. Wanders Deutsches Sprichwörter-Lexikon aus dem Jahr 1873 führt zu dem Stichwort 205 Sprichwörter auf (siehe Zeno.org)!

Am bekanntesten aber sind sicher Friedrich Schillers Worte aus dem Schauspiel Wilhelm Tell , die viele von uns schon seufzend, empört oder wütend gebraucht haben, wenn wir uns mal wieder mit dem Nachbarn über den Löwenzahn im Rasen oder über das mittägliche Toben der Kinder stritten:

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“

Allerdings hat das Originalzitat einen etwas anderen Wortlaut. Richtig heißt es:

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, / Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ (S. 142)

Und wieder die Frage: Hat Schiller diese Worte als erster gedichtet? Und wieder die Antwort: Nein. Vermutlich kannte er das Sprichwort „Aliquid mali esse propter vicinum malum“ aus den Sprichwörtersammlung des Erasmus von Rotterdam Adagia quaecumque ad hanc diem exierunt (Giunta 1575, S. 41).

Erasmus zitiert dort die Worte des Komödiendichters Titus Maccius Plautus (254–um 184 v. Chr.) aus der Komödie Mercator (Der Kaufmann), die wiederum auf der Komödie Emporos (Der Kaufmann) des griechischen Komödiendichters Philemon (um 360–um 264 v. Chr.) beruhen (siehe dazu auch Eckard Lefèvre: Plautus und Philemon):
Nunc ego verum illud verbum esse experior vetus:
Aliquid mali esse propter vicinum malum. (S. 434)

Jetzt habe ich die Wahrheit des alten Wortes erfahren, daß von bösen Nachbarn Böses kommt (auch daß einem deshalb etwas Böses widerfährt, weil man einen bösen Nachbarn hat).
Now I find that saying is true, “something bad comes from a nearby evil.” (auch: Bad comes of a bad neighbour).
Ist Ihnen etwas aufgefallen? Genau, Plautus spricht von einem „alten“ Sprichwort. Und tatsächlich führt Erasmus es auf den griechischen Dichter Hesiod (lat. Hesiodus) (um 700 v. Chr.)  zurück, der „elegant“ in seinem epischen Lehrgedicht Werke und Tage (Opera et dies) schreibt:
… noxa est, vicinus ut improbus, ingens:
Contra ita maxima commoditas, si commodus adsit.
Deest honor huic, bona quem vicinia deficit … 
Ein böser Nachbar ist ein ebenso großes Übel, wie der gute ein Segen ist.
Wem es an Ehre mangelt, dem fehlt die gute Nachbarschaft.
A bad neighbour is as great an evil as good one is a blessing;
he who is  granted a good neighbour is granted value as well.
– Wie Erasmus weiter schreibt, erinnerten sich an diesen Spruch jedoch nicht nur Privatpersonen und Nachbarn, sondern auch benachbarte Völker, die sich bekämpften und einander Niederlagen beibrachten, worauf wohl auch Vergil (eigentlich Publius Vergilius Maro; 70–19 v. Chr.) im ersten Hirtengedicht anspiele: 
Non insueta graves temptabunt pabula, fetas
Nec mala uicini pecoris contagia laedent. (S. 6)

Kein ungewohntes Futter wird die trächtigen Schafe in Gefahr bringen,
und keine schädlichen Kontakte zum Vieh des Nachbarn werden ihnen etwas zuleide tun.
Through taint contagious of a neighbouring flock.
Nor do the contagious diseases of nearby cattle work harm, doubtless alludes.
Manchmal wird auch als Ursprung des Zitats auch  Vers 33 aus der fünfzehnten Satire des Juvenal (eigentlich Decimus Iunius Iuvenalis; 60–130 n. Chr.) genannt:
Inter finitimos vetus atque antiqua simultas,
Inmortale odium et numquam sanabile vulnus
Ardet adhuc, Ombos et Tentura.
(Etwa: Ewiger Streit zwischen den Nachbarstaaten, / Unsterblicher Hass und niemals heilbare Wunden / brennen weiter in Ombos und Tentura.
Frei übersetzt: „Es kan keiner lenger friede haben, denn sein nachpawr wil“ – „Niemand kann länger Frieden haben, als sein Nachbar will“ (auch „Es kann keiner länger Frieden haben, als sein Nachbar“, laut Wikipedia „als seinem Nachbarn beliebt“).
No one can have peace longer than his neighbour pleases.
Den gode har ei længer fred end den onde lyster.
Man har ei længre fred, end sin naboe vil.
Nessuno può star piu tempo in pace di quello che vogliono gli suoi vicini.
Senki tovább nem lehet békeségben, hanem csakaddig még a szomszédja akarja
Niemand kan langer vrede hebben, dan zijn nabuur will**


– kurz und knapp: Böser Nachbar, ewiger Krieg –
Aber vielleicht kannte Schiller auch die Worte des Franziskaners Kaspar Schatzgeyer (auch Gaspar Schatzger):
Es ist ein allt sprichwort, ainer hat von aussen so lanng frid, als lanng sein nachtper wil“
(In – und weil der Titel so schön ist, folgt er hier in voller Länge –: Vorrede des  Sendbriefs Wider herr Hansen von Schwartzenbergs neülich außgangen püechlin von der Kirchendiener vn[d] gaystlichen personen Ee. Auß gründtlicher erkläru[n]g des heyligen Pauli sprüchs 1.Thimo.4. in dem er redet von verpietu[n]g der Eelich werdung, vn[d] enthalltung von ettlicher speyß. Mit anhenngung ettlicher andern mitlauffender materyen, ainem yeden Criste[n] nützlich zervissen, 1527, S. 5
Auch in Latein gibt es viele Sprichwörter zum Thema Nachbarn. Aber diese sind nicht Thema dieses Posts.

*weitere Übersetzungen siehe Ida von Reinsberg-Düringsfeld:
Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen vergleichend

Montag, 20. Juni 2011

Über Kunst und Können, Wollen und Wulst


So manches Zitat gibt es mit unterschiedlichen Urheberangaben und in noch mehr unterschiedlichen Versionen. Aber eines schießt wohl den Vogel ab: die Persiflage auf Johann Gottfried von Herders „Kunst kommt von Können oder von Kennen her“. Hier eine kleine Auswahl der Zitate:

Kunst kommt von Können, käme es von Wollen, hieße es Wulst! (auch „Kunst kommt vom Können, nicht vom Wollen …“; auch Wullst und Wunst)*

Kunst kommt von Können. Käme sie von Wollen, müßte sie Wulst heißen.
Kunst kommt vom Können, nicht vom Wollen, sonst hieße es Wulst.
Kunst kommt von Können, sonst bleibt es beim Wollen und ist Wulst.
Kunst kommt von Können und nicht von Wollen. Denn käme Kunst von Wollen, dann hieße es Wulst!
Kunst kommt von Können und nicht von Wollen. Sonst hieße sie Wulst und nicht Kunst.
Kunst komm von Können und nicht von Wollen, sonst würde es Wullst heißen.
Kunst kommt von „Können"; wenn’s von „Wollen“ käm, würd’s ja Wunst heißen!
Kunst kommt von Können, würde es von Wollen kommen, täte es Wullst heißen.
Kunst muss von „Können“ abgeleitet sein, denn wenn es nur vom Wollen käme, dann müsste es „Wunst" oder „Wullst“ heißen!

*Die Version mit Wullst ergibt übrigens 34 Treffer, Wulst 32.900 und Wunst 237.000

Als Urheber werden unter anderem genannt: Gottfried Benn, Joseph Beuys, Arnold Böcklin, Bert Brecht, Bonmot, Hans von Bülow, Busenkumpel, Siegfried Engelmann, Ludwig Fulda, Robert Gernhardt, Joseph Goebbels, Hermann Groeber, ein Großvater, Heino, Wolfgang Hildesheimer, Clemens Holzmeister, Siegfried Jacobsohn, Kalauer, div. Kunstlehrer, Max Liebermann, Paul Meyerheim, ein Orgellehrer, Redensart, Hannes Reinartz, Musikwissenschaftler Dr. Schenk, Wilfried Schmickler, Julius Schniewind, Hans Thoma, Ludwig Thoma, Kurt Tucholsky, Karl Valentin, ein Vater, Volksmund, Volksweisheit, Horst Wessel, Oswald Wiener und hurra, ich habe auch Heinz Ehrhardt und Karl Kraus als Urheber gefunden, die ja gern für alles verantwortlich gemacht werden, wenn man den Urheber nicht kennt.

Das Zitat gilt als belastet, als „böser Spruch“, weil er auf Joseph Goebbels zurückgehen soll, der damit die moderne abstrakte Kunst diffamieren, sie als „entartete Kunst“, als eine Kunst ohne Können im Gegensatz zur „völkischen Kunst“ hinstellen wollte. Belegt ist das nicht. Aber das Zitat wurde während der Nazizeit offensichtlich gern benutzt, wie der Bericht der Berliner Morgenpost vom 25. 2. 1938 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Entartete Kunst“ zeigt:
„Kunst kommt von Können; wenn sie von Wollen käme, müsste sie Wunst heißen.“ Wie eine Illustrierung zu diesem Wortwitz wirken die ersten Bilder, mit denen sich jetzt in Berlin die Ausstellung „Entartete Kunst“ am Königsplatz 5 den Besuchern präsentiert. Es ist wirklich Wunst, was sich uns hier entgegenwölbt. Und so sinnlos dieses Wort klingt, genau so sinnlos glotzen uns die Kleckerein an, die mit Malerei nur dem Material nach etwas zu tun haben.
(siehe Uwe Fleckner (Hrsg.): Angriff auf die Avantgarde: Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus. Akademieverlag 2007, S. 104)
Der Spruch wurde jedoch schon vorher missbraucht. Bereits 1915 schrieb der Maler Paul Meyerheim über seinen Malerkollegen Anton von Werner in Velhagen & Klasings Monatsheften:
Aber bei seiner Kenntnis der Natur und Wirklichkeit konnte er unmöglich alle jene tollen Auswüchse gutheißen, welche heute unter verschiednen Fahnen und merkwürdigen Titeln die moderne Jugend hinreißen und vernünftig scheinende Menschen zum Blödsinn betören. Bei einer hoffentlich bald aufkeimenden Wiedergeburt der deutschen Kunst werden dann jene Männer wieder zur Geltung kommen, welche wirklich etwas konnten und können, denn Kunst kommt von Können, und unreifes Wollen gibt nur Wulst. (S. 409)
Und 1922 findet sich unter dem Eintrag Erich Heckel im Allgemeinen Künstlerlexicon: Leben und Werke der berühmtesten bildenden Künstler:
… Dann war er Mitbegründer der „Brücke“, die erste jener deutschen Künstler Vereinigungen, die „die Kunst des Könnens mit dem Wulst des Wollens" vertauschten.
Josef Beuys war ein spätes Opfer dieses Zitats. Denn anlässlich der Verleihung des Lichwark-Preises 1976 schrieb Heinz Spielmann, der damalige Hauptkustos am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, im Lokalteil der Welt:
Beuys hat sicher eine Zeitlang die Funktion des quasi-religiösen Sektierers erfüllt, diese Funktion ist jedoch im Hinblick auf den Lichtwark-Preis nicht gefragt. Gefragt ist Kunst, nicht die Absicht, das Wollen (wäre, nach einem Wort von Lichtwarks Freund Max Liebermann, das Wollen gefragt, müßten wir von Wulst statt von Kunst sprechen. Beuys erzeugt Wulst). 
(In Das Kunstwerk 1977, Bd. 30, S. 35;  siehe auch http://www.zeit.de/1977/06/zeitmosaik)
Max Liebermann (1847–1935) wird gern als Urheber des Zitats genannt. Tatsächlich findet sich in seinem Brief an den Kunsthistoriker Max Lehrs vom 21. 7. 1921 der Satz:
Ich bin immer noch der Meinung, daß Kunst von Können herkömmt: Käme sie von Wollen, so hieße sie Wulst.
Weiter schreibt er:
Doch darin würden mir auch die Jüngsten beistimmen, nur verstehen sie unter Können etwas anderes als ich, der ich überzeugt bin, daß das Können eine Phantasietätigkeit ist, wobei die Technik die Handlangerin ist: Sie projiziert die Phantasie auf die Fläche (wobei es ganz gleichgültig, in welchem Material). Darin besteht eben das Talent, daß der Gedanke in der Ausführung beruht und – die Ausführung im Gedanken, nicht, wie Idioten glauben, in der manuellen Geschicklichkeit (die bei jedem Künstler die conditio sine qua non ist).
(In Diether Schmidt: Schriften deutscher Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, Bde 1–2. Verlag der Kunst 1965, S. 271)
Doch bereits 1908 schrieb der Maler Hans Thoma (1839–1924) im Herbste des Lebens: gesammelte Erinnerungsblätter: „Bei uns nämlich muß der Künstler irgendwo hinaus wollen, immer etwas wollen, daher der viele Wulst in der Kunst. Er muß Zweck und Absicht bekennen und aussprechen können.“

Der eigentliche Urheber ist jedoch Ludwig Fulda (1862–1939) mit einem seiner Sinngedichte:
Weiß nicht, was echte Künstler sollen
Mit eurem theoretischen Schwulst;
Kunst kommt von Können, nicht von Wollen:
Sonst hieß es: „Wulst“.
(In Heft 15 des Magazins für Litteratur vom 14. April 1894; siehe Faksimile bei wikipedia)
Vielleicht hat Karl Valentin (1882–1948) mit seinem Ausspruch
Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst müsste es ja Wunst heißen 
auf dieses Sinngedicht zurückgegriffen. (Quelle: karl-valentin.de; siehe auch die hübsche Postkarte)

– Die Rezensentin einer Kunstausstellung, die den Referenten, der bei einem Vortrag im Rahmenprogramm der Ausstellung diese Worte aufgegriffen hatte, kritisierte mit: „Nein, Herr Wessel, vermutlich hieße sie dann ‘Wünst’. Denn wenn aus einem ‘ö’ ein ‘u’ wird, würde aus einem ‘o' ein ‘ü’“, hätte sich allerdings schlau machen sollen, bevor sie die Rezension schrieb. –

Auch der Duden 11: Redewendungen: Wörterbuch der deutschen Idiomatik von 2002 kennt das Zitat, schreibt es aber Robert Gernhardt zu: Als Quelle nennt er eine Sendung auf swr-online.de. Tatsächlich schreibt Gernhardt in seinem Pamphlet gegen den ewigen Dilettantismus:
„Antonio, höre mir gut zu. Habe ich dir jemals gesagt, Kunst kommt von Können, käme sie von Wollen, hieße sie Wulst? Vergiss es! Die Wulst hat gesiegt, die Kunst ist am Ende; zusammen mit dem Jahrtausend, das einige ihrer glorreichsten Siege sah, räumt sie geschlagen das Feld dem, der sie seit Anbeginn gewünscht und verwünscht, verteufelt und vergöttert hat: dem ewigen Dilettanten.“
(In Der letzte Zeichner: Aufsätze zu Kunst und Karikatur. Haffmans 1999, S. 9)
– Schade, ich würde mir wünschen, der Duden hätte genauer recherchiert. –

Bert Brecht wiederum schrieb:
Das Zeittheater beruht mehr auf dem Wollen, und daher müßte man für diese Kunst, die nicht dem Können, sondern dem Wollen entspringt, sinngemäß (wie ein schlagfertiger Kopf bemerkt hat) Wulst sagen. An diesem Wulst ist unsere Bühne zugrunde gegangen. Je unreifer ein Stück war, desto bereitwilliger wurde es dem Publikum vorgesetzt.
(In Richard Elsner (Hrsg.), Das Deutsche Drama in Geschichte und Gegenwart, Bd 4. Heyer 1932, S. 13)
Arnold Böcklin soll laut Schweizer Rundschau 1918, S. 224, gesagt haben: „Kunst kommt von Können, wenn es von Wollen käme, so hieß es Wulst“, und Hans von Bülow (1830–1894): „Kunst kommt vom Können, nicht vom Wollen, sonst hieße sie Wunst“ (zitiert nach OHLSDORF – Zeitschrift für Trauerkultur, 88 (2005)

Friedrich Gundolf (1880–1931) wiederum wird der Satz zugesprochen:
Kunst kommt von Können, aber immer ist Kunst „Sein“, nur Kunst kommt von Können, käme es vom Wollen, so hieße es „Wullst“, – und käme es vom Sein, – so hieße es „Sunst“! Kunst aber kommt vom Urbeginn her, vom Können, aber immer ist Kunst „Sein“, nur – „Sein“ ist noch lange keine Kunst.
(Zitiert nach W. Wagner & G. Weismantel: Aber die Schleichenden, die mag Gott nicht: Der Dichter und Volkserzieher Leo Weismantel: Festschrift zum 100. Geburtstag. P. Lang 1988, S. 193)
Der Maler Hermann Groeber (1865–1935) wird sogar in der Wikipedia als Urheber genannt. Eine Quelle gibt es jedoch nicht.

In einer Ausgabe des Aufbaus aus dem Jahr 1946 heißt es:
„Kunst kommt von Können“, pflegte Siegfried Jacobsohn zu sagen. „Käme sie von Wollen, sie hieße nämlich – Wulst …“ Und der pflegt an den einzigen Ort  „gefördert“ zu werden, der dafür in Frage kommt: – der Papierkorb“.
Hannes Reinartz schließlich wird mit den Worten zitiert
Kunst kommt nicht nur von Können – was unbestreitbar ist, denn käme es von Wollen, so hieße sie Wulst! – sondern darüber hinaus von Künden.
(Zitiert nach Ludwig Hoelscher zum 75. Geburtstag. Schneider 1982, S. 52)
Und nein von Heinz Erhardt, Karl Kraus und Kurt Tucholsky (und all den anderen oben genannten Urhebern, die hier nicht aufgeführt sind) stammen diese Worte sicher nicht.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Fundstück der Woche

Vielen deutschen Zitatensammlungen sei diese Anmerkung auf einer Sammlung von lateinischen Zitaten mit englischer Übersetzung ins Stammbuch geschrieben:
This table was compiled from multiple sources on the Internet; in other words, it's guaranteed to be inaccurate. Caveat lector!

Das kleinste Haar wirft seinen Schatten …


(auch „Auch ein Haar hat seinen Schatten“)

Etiam capillus unus habet umbram suam.*
Até mesmo um único cabelo tem sua sombra
Cada cabello hace su sombra.
Cada pelo hace su sombra en el suelo.
Cada sua sombra na terra.
Hasta el pelo mas delgado hace su sombra en el suelo.
Hasta un pelo hace su sombra en el suelo.
II n'ya si petit buisson qui n'ait son ombre.
Ogni pelo ha la sua ombra.
The smallest hair casts a shadow (auch Even one hair has a shadow) in der Übersetzung von Francis Bacon (1561–1626) (In The Works of Francis Bacon. Pickering 1834, S. 213

… las ich bei Johann Wolfgang von Goethe, fand auch schnell die Quelle und freute mich: Das Zitat kann ich unbedenklich in meinen Schreibblog aufnehmen. Das tat ich auch.

Nur hatte ich übersehen, dass das Zitat dort unter der Überschrift „Eigenes und Angeeignetes in Sprüchen“  aufgeführt wurde und in späteren Ausgaben fälschlicherweise unter Maximen und Reflexionen, den Sprüchen in Prosa, erscheint. (Zu Goethes Sprüchen und Goethes Vorliebe für Sprichwörter siehe die lesenswerten Ausführungen in Goethes Gedichte, kommentiert von Erich Trunz, Beck 2007, auf S. 683). Denn zufälligerweise entdeckte ich in der Ausgabe von Goethes Sprüche in Prosa des Verlags Freies Geistesleben aus dem Jahr 1967 auf S. 139 die Fußnote:
Dieser Spruch stammt aus den Sprichwörtern des Erasmus: „Etiam capillus unus habet umbram suam“
(= Auch ein einzig Härchen hat seinen Schatten)*
*(Auch Et pilo sua umbra; Etiam capillus habet umbram suam; Etiam capillus suam facit umbram; Vel capillus habet umbram suam; Vel capillus unus habet umbram suam, was daran liegen mag, dass spätere Herausgeber der Sentenzen sich nicht immer an das Original gehalten haben.)

Tatsächlich besaß Goethe, der Sprichwortsammlungen liebte, auch das Werk Adagia von Desiderius Erasmus Roterodamus, Basel 1520.

Achherje, seufzte ich: Ist nichts mit gemütlich in der Sonne liegen und schauen, ob meine Haare Schatten werfen.

Aber das mit dem Sprichwörtern des Erasmus ist so auch nicht richtig. Ich habe das Sprichwort zwar in Epitome Adagiorum ex Novissima D. Erasmi Rot. Recognitione aus dem Jahr 1549 auf S. 49 gefunden, tatsächlich ist es jedoch aus den Sententiae  (Sentenzen) des aus Antiocha in Syrien stammenden Mimendichters Publilius (auch Publius) Syrus (bei Plinius mit dem Beinamen Lochius), der unter Cäsar und Kaiser Augustus lebte (vermutlich 46 v. Chr. – 43 n. Chr.), die Erasmus von Rotterdam in einer kritischen Ausgabe herausgegeben hat (Publilius Syrus: Publii Syri Mimi, similesque sententiae selectae e Poetis antiquis … Quas olim D. Erasmus Roterodamus delegerat et commentario explanaverat, ... atque versibus Germanicis red. a. J. F. Kremsier. Sommer 1818, S. 23).

Die Sententiae  des Sklaven und später Freigelassenen Publilius Syrus wurden aus dessen Mimen (von lat. mimus = Posse, dramatische Darstellung komischer Szenen aus dem gemeinen Volksleben) im ersten oder Anfang des zweiten Jahrhundert nach Chr. als eine Art Handbuch der Moral (deshalb auch der englische Titel der Sammlung Moral Sayings of Publius Syrus)  zusammengestellt, damit die Schüler in den Schulen die Sprüche lesen und auswendig lernen. Sie sind in verschiedenen handschriftlichen Manuskripten erhalten geblieben, so in der Collectio Senecae (Sammlung des Seneca) und der Collectio Veronensis (Veronenser Sammlung). Schon der Hl. Hieronymus (347–420) rühmte Syrus und zitierte in seinen Episteln einen in der Schule gehörten Vers mit der Bemerkung: „Legi quondam in scholis puer“ (Einst las ich als Knabe in der Schule): „Aegre reprehendas, quod finis confuescere“ (Was zur Gewohnheit wurde, lässt sich schwer tadeln) (In Publii Syri Et Aliorum Veterum Sententiae, S. 96).

Die Sammlungen wurden unter anderem im Mittelalter um Aussprüche anderer Dichter erweitert, sie wurden gekürzt, umgeschrieben und verändert. Die oben angegebene Ausgabe heißt deshalb auch Publii Syri Et Aliorum Veterum Sententiae (= Publii Syri et al. Sentenzen der Alten), so dass die wenigsten Sprüche tatsächlich von Syrus sind. (Welche es sind, finden Sie hier.)  Da die Sentenz Etiam capillus unus habet umbram suam dort nicht aufgeführt ist, ist anzunehmen, dass sie nicht von Publilius Syrus stammt.

Die Urheberangaben Johann Wolfgang von Goethe oder Publilius Syrus beziehungsweise Publius Syrus sind also leider falsch und damit auch die Angabe von Goethe als Urheber in meinem Blog. Zu empfehlen ist die Angabe nach Goethe bzw. Syrus.

Mehr zu Syrus und den Sentenzen siehe hier und hier.

Leider war die Sonne inzwischen verschwunden. Aber zumindest hatte ich eine Menge über Mimen und einen Freigelassenen namens Publilius Syrus gelernt. Und das ist ja auch nicht schlecht, nicht wahr? Und alles wegen einer kleinen Fußnote, die ich zufällig in einer Ausgabe von Goethes Sprüche in Prosa aus dem Jahr 1967 entdeckte.

Nachtrag: Ach, hätte ich doch weitergeforscht. Dann hätte ich auch Goethes Spruch in Sprichwörtliches gelesen, der sicher nicht nur dafür galt:
Diese Worte sind nicht alle in Sachsen
Noch auf meinem eignen Mist gewachsen;
Doch, was für Samen die Fremde bringt,
Erzog ich im Lande gut gedüngt.
(In Goethes Werke: Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 2. Cotta’sche Buchhandlung 1827,  S. 253)

Dienstag, 14. Juni 2011

Mark Twain zur Erschaffung des Menschen

„Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen. Danach verzichtete er auf weitere Experimente.“
(auch „Gott erschuf den Menschen, weil er vom Affen enttäuscht war. Danach verzichtete er auf weitere Experimente.“)

„Dio creò l' uomo perché la scimmia l' aveva deluso. Dopo però rinunciò ad altri sperimenti.“

I believe that our Heavenly Father invented man because he was disappointed in the monkey. I believe that whenever a human being, of even the highest intelligence and culture, delivers, an opinion upon a matter apart from his particular and especial line of interest, training and experience, it will always be an opinion so foolish and so valueless a sort that it can be depended upon to suggest to our Heavenly Father that the human being is another disappointment and that he is no considerable improvement upon the monkey.

Mark Twain

(In Mark Twain in Eruption: Hitherto Unpublished Pages about Men and Events. Harper & Brothers 1940, S. 372

Sonntag, 12. Juni 2011

Man entdeckt keine neuen Weltteile, ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren


– Auch: „Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren.“
On ne découvre pas de nouveaux continents sans avoir le courage de perdre de vue les côtes familières.“
Man cannot discover new oceans unless he has the courage to lose sight of the shore.“* –

heißt ein bekanntes Zitat von Andrè Gide aus seinem Werk Die Falschmünzer (Les faux-monnayeurs; The Counterfeiters). Nur – so hat er es nicht gesagt. Richtig heißt es:

„Ich habe oft bedacht“, unterbrach Edouard den Sprechenden, „daß in der Kunst, besonders in der Literatur, nur der in Betracht kommt, der Unbekanntes sucht. Man entdeckt keine neuen Weltteile, ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren. Doch unsere behutsamen Literaten fürchten sich vor dem hohen Meer: das Geschäft, das sie betreiben, ist nur Küstenschiffahrt.“ (S. 449)

J'ai souvent pensé, interrompit Édouard, qu'en art, et en littérature en particulier, ceux-là seuls comptent qui se lancent vers l'inconnu. On ne découvre pas de terre nouvelle sans consentir à perdre de vue, d'abord et longtemps, tout rivage. Mais nos écrivains craignent le large; ce ne sont que des côtoyeurs. (S. 52)

“I have often thought,“ interrupted Edouard,  that in art, and particularly in literature, the only people who count are those who launch out on to unknown seas. out on to unknown seas. One doesn't discover new lands without consenting to lose sight of the shore for a very long time. But our writers are afraid of the open; they are mere coasters. (S. 309)

Ernst Bloch hat Gides Zitat in seinem Werk Das Materialismusproblem: Seine Geschichte und Substanz aufgegriffen (ob er irgendwo die Quelle genannt hat, ist unbekannt).
Alles muß derart mit neuem Zug begonnen werden können, man entdeckt keine neuen Weltteile, wenn man nicht den Mut hat, die bekannten Küsten aus dem Auge zu verlieren. Aber alles Lebendige aus den alten Küsten fährt ebenso im Prozeß des Neuen, gar Eigentlichen mit, wonach eben nichts weniger jakobinisch, nichts überlegter konservativ ist als konkrete Revolution. (S. 417)
 *Rückübersetzungen aus dem Deutschen

Freitag, 10. Juni 2011

Über „Damit nicht Sonn und Mond umsonst die Bahn beschlossen …“


Nun, abgesehen davon, dass hinter Sonn ein Apostroph fehlt, zuerst einmal: Die Worte

„Damit nicht Sonn und Mond umsonst die Bahn beschlossen, freut euch der Ruh, ihr Weggenossen“
 (auch: Damit nicht Sonn und Mond umsonst die Bahn beschlossen, / Freut euch der Ruh, ihr Weggenossen)

sind kein Gute-Nacht-Spruch und auch kein Tagesmotto von Konfuzius, auch von „Weggenossen“ ist im Originaltext nicht die Rede, sondern sie stammen aus dem Gedicht

Einzug in’s Winterhaus*

Die Fluren sind geleert,
Die sommerliche Grille
Ist mit uns eingekehrt
Zur winterlichen Stille.
Nun abgelaufen sind
Des Jahres Mond’ und Sonnen;
Eh wieder sie’s begonnen,
Erquicket euch gelind!
Der Mond, die Sonne, die uns sahn zur Arbeit gehen,
Sie wollen unsre Ruh nun sehen.

Die Fluren sind geleert,
Und selbst die Sommergrille
Ist mit uns eingekehrt
In unsre Winterstille.
Es haben ihre Bahn
Beschlossen Mond und Sonne;
Nun feyern wir in Wonne,
Bis neu sie heben an.
Damit nicht Sonn’ und Mond umsonst die Bahn beschlossen,
Freut euch der Ruh, ihr Werkgenossen!

Die Fluren sind geleert,
Die sommerliche Grille
Ist mit uns eingekehrt
In’s Winterhaus das stille.
Es gehn ohn’ Aufenthalt
Der Jahre Mond’ und Sonnen;
Sehn uns in Leid und Wonnen;
Und sehn uns jung und alt.
Nun in der Fröhlichkeit laßt guter Sitt’ uns denken,
Daß sie den Blick uns gerne schenken!

*Die Überschrift „Freut euch der Ruh, ihr Werkgenossen!“ ist ebenfalls falsch.

Ebenso falsch ist die Angabe von Konfuzius oder gar Adolf Kolping als Verfasser. Das Gedicht stammt aus dem Schi-king, einer Sammlung von chinesischen Liedern aus dem 10. und 7. Jahrhundert v. Chr., zum Teil sogar noch älteren Datums, die Konfuzius gesammelt hat. Mehr zum Schi-king siehe unter anderem im Morgenblatt für gebildete Leser, S. 57 und S. 62.

Die hier aufgenommene Version ist aus Schi-king: Chinesiches Liederbuch**, gesammelt von Confucius, dem Deutschen angeeignet von Friedrich Rückert***. Hammerich 1833, S. 124f. (Mehr zu Rückerts Nachdichtung siehe hier). Weitere Übersetzungen beziehungweise Nachdichtungen stammen unter anderem von Albert Ehrenstein und Victor von Strauß. Zu den Übersetzungen des Schi-king allgemein siehe hier und speziell zu Ehrensteins Übersetzung hier. Eine Übersicht der Übersetzungen ins Lateinische, Englische, Französische und Deutsche bietet
http://61.197.194.11/morisoncategory/MorisonQueryResultNDC.php?cm1=III&cm2=9-B-d

**auch Das kanonische Liederbuch der Chinesen

***Nach der lateinischen Übersetzung des französischen Jesuiten P. Alexandre de la Charme SJ  (auch P. Alexandre Lacharme) aus dem Jahr 1733 mit dem Titel Confucii Chi-king, Sive Liber Carminum, herausgegeben von Julius Mohl, Cotta 1830.

An diesem einen Zitat kann man sehen, was man alles falsch machen kann: Falscher Urheber, falsche Zitierweise, Fehler im Zitat und falsche Überschrift eines Gedichtes.

Mittwoch, 8. Juni 2011

Thoreau über das Leben in den Wäldern und der Club der toten Dichter


„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte", schreibt Henry David Thoreau in seinem Buch Walden oder Leben in den Wäldern (Walden, or Life in the Woods), seinem tagebuchartigen Bericht über seinen mehr als zweijährigen Ausstieg aus der industrialisierten Massengesellschaft der damals noch jungen USA. Und weiter: „Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde. Ich wollte einen breiten Schwaden dicht am Boden mähen, das Leben in die Enge treiben und auf seine einfachste Formel reduzieren; und wenn es sich gemein erwiese, dann wollte ich seiner ganzen unverfälschten Niedrigkeit auf den Grund kommen und sie der Welt verkünden. War es aber erhaben, so wollte ich dies durch eigene Erfahrung erkennen und imstande sein, bei meinem nächsten Ausflug Rechenschaft darüber abzulegen. Denn die meisten Menschen scheinen mir in einer sonderbaren Ungewissheit darüber zu leben, ob es vom Teufel oder von Gott ist, und so haben sie einigermaßen übereilt geschlossen, dass der Hauptzweck des Menschen hier auf Erden sei: „Gott in Ewigkeit zu loben und zu preisen.“

„I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived. I did not wish to live what was not life, living is so dear; nor did I wish to practise resignation, unless it was quite necessary. I wanted to live deep and suck out all the marrow of life, to live so sturdily and Spartan-like as to put to rout al' that was not life, to cut a broad swath and shave close, to drive life into a corner, and reduce it to its lowest terms, and, if it proved to be mean, why then to get the whole and genuine meanness of it, and publish its meanness to the world; or if it were sublime, to know it by experience, and be able to give a true account of it in my next excursion. For most men, it appears to me, are in a strange uncertainty about it, whether it is of the devil or of God, and have somewhat hastily concluded that it is the chief end of man here to „glorify God and enjoy him forever.“ (S. 63)

Berühmt geworden sind diese Worte jedoch erst durch den Film Club der toten Dichter, die als Motto bei jedem Trefffen des Clubs verlesen wurden, als:
Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte. Ich wollte das Dasein auskosten. Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen! Und alles fortwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag innezuwerden, dass ich nie gelebt hatte.

I went to the woods because I wanted to live deliberately, I wanted to live deep and suck out all the marrow of life, To put to rout all that was not life and not when I had come to die discover that I had not lived.
Tatsächlich aber sind Thoreaus Worte aus dem Zusammenhang gerissen und es ist auch kein Gedicht, wie auf der Wikipedia-Seite zum Club der toten Dichter angegeben. Denn im Original heißt es:
»Ich verlese nun die traditionelle Eröffnungspassage von unserem Clubmitglied Henry David Thoreau.« Neil schlug das Buch auf, das ihm Keating ins Zimmer gelegt hatte und las vor: »Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte.« Er ließ einiges aus und fuhr fort: »Ich wollte das Dasein auskosten. Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen!«
»Dafür bin ich auch!« warf Charlie ein.
»Und um alles fortzuwerfen, das kein Leben barg«, fuhr Neil fort. Dann ließ er wieder einige Sätze weg. »Um nicht an meinem Todestag innezuwerden, daß ich nie gelebt hatte.« Es trat ein langes Schweigen ein.
(In Nancy H. Kleinbaum: Der Club der toten Dichter, übersetzt von Ekkehart Reinke. Bastei Lübbe 40. Aufl. 2009, S. 55)

Sonntag, 5. Juni 2011

Selbst die besten Schriftsteller reden zuviel

Die besten Autoren reden zu viel. (Besser bekannt unter „Selbst die besten Schriftsteller reden zuviel.“)*
 
Les meilleurs auteurs parlent trop.
The best authors speak too much.


Luc de Vauvenargues (eigentlich Luc de Clapiers, Marquis de Vauvenargues)

(In Introduction à la connaissance de l'Esprit humain. Paris 1828, S. 435)

*zitiert nach Otto Flake: Freiheitsbaum und Guillotine. 57 Essays aus sechs Jahrzehnten. Als Vorwort: Kurt Tucholsky über Otto Flake. Mit einem Nachwort von Rolf Hochhuth. S. Fischer 1976,  S. 336.

Freitag, 3. Juni 2011

William Faulkner über das Schreiben des ersten Satzes

„Schreiben Sie den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den zweiten lesen will. Das ist eine gute Regel."

(Auch Schreib den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt auch den zweiten lesen will; Man schreibe den ersten Satz so, daß der Leser unbedingt auch den zweiten Satz lesen will)

You have got to write the first sentence of a story so that whoever reads it will want to read the second one. That is a good rule.

William Faulkner

(In Joseph Blotner (Hrsg.): Selected Letters of William Faulkner. Vintage Books 1978, S. 327)

Die Version

"Schreib den ersten Satz so, daß der Leser unbedingt auch den zweiten Satz lesen will. Und dann immer so weiter"

klingt zwar besser, ist aber leider falsch.

Mittwoch, 1. Juni 2011

Max Planck über Naturwissenschaften und den Glauben

Ein Ausspruch Max Plancks wird gern zitiert, unter anderem auch von unserem Altbundespräsidenten Horst Köhler:

„Die Naturwissenschaften braucht der Mensch zum Erkennen, den Glauben zum Handeln.“
Natural science wants man to learn, religion wants him to act.
La science est à la base de l'action utilitaire, la religion est la base de l'éthique.

Nur: Hat Max Planck das wirklich so gesagt? Und wieder einmal lautet die Antwort: Nein.

Denn tatsächlich sagte er in seinem berühmten Vortrag Religion und Naturwissenschaft, den er erstmals während einer Reise ins Baltikum im Mai 1937 in Riga hielt:

„Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, die Religion aber braucht er zum Handeln.“

(In H. Roos & A. Hermann (Hrsg.): Max Planck: Vorträge, Reden, Erinnerungen. Springer 2001  S. 170)

– Dafür, dass Alexander von Humboldt der Urheber ist, wie auch behauptet wird, liegt kein Beleg vor. –

Eine weitere Version des Zitats lautet:
Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, die Religion zum Handeln, weil wir mit unseren Willensentscheidungen nicht warten können, bis die Erkenntnisse vollständig, und bis wir allwissend geworden sind [kursiv jmw].
Allerdings habe ich dafür ebenfalls keine Quelle gefunden. Mag sein, dass der Zusatz aus einem weiteren Vortrag Plancks zu dem Thema stammt, der aber nicht schriftlich vorliegt.