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Mittwoch, 15. Juni 2011

Das kleinste Haar wirft seinen Schatten …


(auch „Auch ein Haar hat seinen Schatten“)

Etiam capillus unus habet umbram suam.*
Até mesmo um único cabelo tem sua sombra
Cada cabello hace su sombra.
Cada pelo hace su sombra en el suelo.
Cada sua sombra na terra.
Hasta el pelo mas delgado hace su sombra en el suelo.
Hasta un pelo hace su sombra en el suelo.
II n'ya si petit buisson qui n'ait son ombre.
Ogni pelo ha la sua ombra.
The smallest hair casts a shadow (auch Even one hair has a shadow) in der Übersetzung von Francis Bacon (1561–1626) (In The Works of Francis Bacon. Pickering 1834, S. 213

… las ich bei Johann Wolfgang von Goethe, fand auch schnell die Quelle und freute mich: Das Zitat kann ich unbedenklich in meinen Schreibblog aufnehmen. Das tat ich auch.

Nur hatte ich übersehen, dass das Zitat dort unter der Überschrift „Eigenes und Angeeignetes in Sprüchen“  aufgeführt wurde und in späteren Ausgaben fälschlicherweise unter Maximen und Reflexionen, den Sprüchen in Prosa, erscheint. (Zu Goethes Sprüchen und Goethes Vorliebe für Sprichwörter siehe die lesenswerten Ausführungen in Goethes Gedichte, kommentiert von Erich Trunz, Beck 2007, auf S. 683). Denn zufälligerweise entdeckte ich in der Ausgabe von Goethes Sprüche in Prosa des Verlags Freies Geistesleben aus dem Jahr 1967 auf S. 139 die Fußnote:
Dieser Spruch stammt aus den Sprichwörtern des Erasmus: „Etiam capillus unus habet umbram suam“
(= Auch ein einzig Härchen hat seinen Schatten)*
*(Auch Et pilo sua umbra; Etiam capillus habet umbram suam; Etiam capillus suam facit umbram; Vel capillus habet umbram suam; Vel capillus unus habet umbram suam, was daran liegen mag, dass spätere Herausgeber der Sentenzen sich nicht immer an das Original gehalten haben.)

Tatsächlich besaß Goethe, der Sprichwortsammlungen liebte, auch das Werk Adagia von Desiderius Erasmus Roterodamus, Basel 1520.

Achherje, seufzte ich: Ist nichts mit gemütlich in der Sonne liegen und schauen, ob meine Haare Schatten werfen.

Aber das mit dem Sprichwörtern des Erasmus ist so auch nicht richtig. Ich habe das Sprichwort zwar in Epitome Adagiorum ex Novissima D. Erasmi Rot. Recognitione aus dem Jahr 1549 auf S. 49 gefunden, tatsächlich ist es jedoch aus den Sententiae  (Sentenzen) des aus Antiocha in Syrien stammenden Mimendichters Publilius (auch Publius) Syrus (bei Plinius mit dem Beinamen Lochius), der unter Cäsar und Kaiser Augustus lebte (vermutlich 46 v. Chr. – 43 n. Chr.), die Erasmus von Rotterdam in einer kritischen Ausgabe herausgegeben hat (Publilius Syrus: Publii Syri Mimi, similesque sententiae selectae e Poetis antiquis … Quas olim D. Erasmus Roterodamus delegerat et commentario explanaverat, ... atque versibus Germanicis red. a. J. F. Kremsier. Sommer 1818, S. 23).

Die Sententiae  des Sklaven und später Freigelassenen Publilius Syrus wurden aus dessen Mimen (von lat. mimus = Posse, dramatische Darstellung komischer Szenen aus dem gemeinen Volksleben) im ersten oder Anfang des zweiten Jahrhundert nach Chr. als eine Art Handbuch der Moral (deshalb auch der englische Titel der Sammlung Moral Sayings of Publius Syrus)  zusammengestellt, damit die Schüler in den Schulen die Sprüche lesen und auswendig lernen. Sie sind in verschiedenen handschriftlichen Manuskripten erhalten geblieben, so in der Collectio Senecae (Sammlung des Seneca) und der Collectio Veronensis (Veronenser Sammlung). Schon der Hl. Hieronymus (347–420) rühmte Syrus und zitierte in seinen Episteln einen in der Schule gehörten Vers mit der Bemerkung: „Legi quondam in scholis puer“ (Einst las ich als Knabe in der Schule): „Aegre reprehendas, quod finis confuescere“ (Was zur Gewohnheit wurde, lässt sich schwer tadeln) (In Publii Syri Et Aliorum Veterum Sententiae, S. 96).

Die Sammlungen wurden unter anderem im Mittelalter um Aussprüche anderer Dichter erweitert, sie wurden gekürzt, umgeschrieben und verändert. Die oben angegebene Ausgabe heißt deshalb auch Publii Syri Et Aliorum Veterum Sententiae (= Publii Syri et al. Sentenzen der Alten), so dass die wenigsten Sprüche tatsächlich von Syrus sind. (Welche es sind, finden Sie hier.)  Da die Sentenz Etiam capillus unus habet umbram suam dort nicht aufgeführt ist, ist anzunehmen, dass sie nicht von Publilius Syrus stammt.

Die Urheberangaben Johann Wolfgang von Goethe oder Publilius Syrus beziehungsweise Publius Syrus sind also leider falsch und damit auch die Angabe von Goethe als Urheber in meinem Blog. Zu empfehlen ist die Angabe nach Goethe bzw. Syrus.

Mehr zu Syrus und den Sentenzen siehe hier und hier.

Leider war die Sonne inzwischen verschwunden. Aber zumindest hatte ich eine Menge über Mimen und einen Freigelassenen namens Publilius Syrus gelernt. Und das ist ja auch nicht schlecht, nicht wahr? Und alles wegen einer kleinen Fußnote, die ich zufällig in einer Ausgabe von Goethes Sprüche in Prosa aus dem Jahr 1967 entdeckte.

Nachtrag: Ach, hätte ich doch weitergeforscht. Dann hätte ich auch Goethes Spruch in Sprichwörtliches gelesen, der sicher nicht nur dafür galt:
Diese Worte sind nicht alle in Sachsen
Noch auf meinem eignen Mist gewachsen;
Doch, was für Samen die Fremde bringt,
Erzog ich im Lande gut gedüngt.
(In Goethes Werke: Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 2. Cotta’sche Buchhandlung 1827,  S. 253)

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