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Montag, 20. Juni 2011

Über Kunst und Können, Wollen und Wulst


So manches Zitat gibt es mit unterschiedlichen Urheberangaben und in noch mehr unterschiedlichen Versionen. Aber eines schießt wohl den Vogel ab: die Persiflage auf Johann Gottfried von Herders „Kunst kommt von Können oder von Kennen her“. Hier eine kleine Auswahl der Zitate:

Kunst kommt von Können, käme es von Wollen, hieße es Wulst! (auch „Kunst kommt vom Können, nicht vom Wollen …“; auch Wullst und Wunst)*

Kunst kommt von Können. Käme sie von Wollen, müßte sie Wulst heißen.
Kunst kommt vom Können, nicht vom Wollen, sonst hieße es Wulst.
Kunst kommt von Können, sonst bleibt es beim Wollen und ist Wulst.
Kunst kommt von Können und nicht von Wollen. Denn käme Kunst von Wollen, dann hieße es Wulst!
Kunst kommt von Können und nicht von Wollen. Sonst hieße sie Wulst und nicht Kunst.
Kunst komm von Können und nicht von Wollen, sonst würde es Wullst heißen.
Kunst kommt von „Können"; wenn’s von „Wollen“ käm, würd’s ja Wunst heißen!
Kunst kommt von Können, würde es von Wollen kommen, täte es Wullst heißen.
Kunst muss von „Können“ abgeleitet sein, denn wenn es nur vom Wollen käme, dann müsste es „Wunst" oder „Wullst“ heißen!

*Die Version mit Wullst ergibt übrigens 34 Treffer, Wulst 32.900 und Wunst 237.000

Als Urheber werden unter anderem genannt: Gottfried Benn, Joseph Beuys, Arnold Böcklin, Bert Brecht, Bonmot, Hans von Bülow, Busenkumpel, Siegfried Engelmann, Ludwig Fulda, Robert Gernhardt, Joseph Goebbels, Hermann Groeber, ein Großvater, Heino, Wolfgang Hildesheimer, Clemens Holzmeister, Siegfried Jacobsohn, Kalauer, div. Kunstlehrer, Max Liebermann, Paul Meyerheim, ein Orgellehrer, Redensart, Hannes Reinartz, Musikwissenschaftler Dr. Schenk, Wilfried Schmickler, Julius Schniewind, Hans Thoma, Ludwig Thoma, Kurt Tucholsky, Karl Valentin, ein Vater, Volksmund, Volksweisheit, Horst Wessel, Oswald Wiener und hurra, ich habe auch Heinz Ehrhardt und Karl Kraus als Urheber gefunden, die ja gern für alles verantwortlich gemacht werden, wenn man den Urheber nicht kennt.

Das Zitat gilt als belastet, als „böser Spruch“, weil er auf Joseph Goebbels zurückgehen soll, der damit die moderne abstrakte Kunst diffamieren, sie als „entartete Kunst“, als eine Kunst ohne Können im Gegensatz zur „völkischen Kunst“ hinstellen wollte. Belegt ist das nicht. Aber das Zitat wurde während der Nazizeit offensichtlich gern benutzt, wie der Bericht der Berliner Morgenpost vom 25. 2. 1938 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Entartete Kunst“ zeigt:
„Kunst kommt von Können; wenn sie von Wollen käme, müsste sie Wunst heißen.“ Wie eine Illustrierung zu diesem Wortwitz wirken die ersten Bilder, mit denen sich jetzt in Berlin die Ausstellung „Entartete Kunst“ am Königsplatz 5 den Besuchern präsentiert. Es ist wirklich Wunst, was sich uns hier entgegenwölbt. Und so sinnlos dieses Wort klingt, genau so sinnlos glotzen uns die Kleckerein an, die mit Malerei nur dem Material nach etwas zu tun haben.
(siehe Uwe Fleckner (Hrsg.): Angriff auf die Avantgarde: Kunst und Kunstpolitik im Nationalsozialismus. Akademieverlag 2007, S. 104)
Der Spruch wurde jedoch schon vorher missbraucht. Bereits 1915 schrieb der Maler Paul Meyerheim über seinen Malerkollegen Anton von Werner in Velhagen & Klasings Monatsheften:
Aber bei seiner Kenntnis der Natur und Wirklichkeit konnte er unmöglich alle jene tollen Auswüchse gutheißen, welche heute unter verschiednen Fahnen und merkwürdigen Titeln die moderne Jugend hinreißen und vernünftig scheinende Menschen zum Blödsinn betören. Bei einer hoffentlich bald aufkeimenden Wiedergeburt der deutschen Kunst werden dann jene Männer wieder zur Geltung kommen, welche wirklich etwas konnten und können, denn Kunst kommt von Können, und unreifes Wollen gibt nur Wulst. (S. 409)
Und 1922 findet sich unter dem Eintrag Erich Heckel im Allgemeinen Künstlerlexicon: Leben und Werke der berühmtesten bildenden Künstler:
… Dann war er Mitbegründer der „Brücke“, die erste jener deutschen Künstler Vereinigungen, die „die Kunst des Könnens mit dem Wulst des Wollens" vertauschten.
Josef Beuys war ein spätes Opfer dieses Zitats. Denn anlässlich der Verleihung des Lichwark-Preises 1976 schrieb Heinz Spielmann, der damalige Hauptkustos am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, im Lokalteil der Welt:
Beuys hat sicher eine Zeitlang die Funktion des quasi-religiösen Sektierers erfüllt, diese Funktion ist jedoch im Hinblick auf den Lichtwark-Preis nicht gefragt. Gefragt ist Kunst, nicht die Absicht, das Wollen (wäre, nach einem Wort von Lichtwarks Freund Max Liebermann, das Wollen gefragt, müßten wir von Wulst statt von Kunst sprechen. Beuys erzeugt Wulst). 
(In Das Kunstwerk 1977, Bd. 30, S. 35;  siehe auch http://www.zeit.de/1977/06/zeitmosaik)
Max Liebermann (1847–1935) wird gern als Urheber des Zitats genannt. Tatsächlich findet sich in seinem Brief an den Kunsthistoriker Max Lehrs vom 21. 7. 1921 der Satz:
Ich bin immer noch der Meinung, daß Kunst von Können herkömmt: Käme sie von Wollen, so hieße sie Wulst.
Weiter schreibt er:
Doch darin würden mir auch die Jüngsten beistimmen, nur verstehen sie unter Können etwas anderes als ich, der ich überzeugt bin, daß das Können eine Phantasietätigkeit ist, wobei die Technik die Handlangerin ist: Sie projiziert die Phantasie auf die Fläche (wobei es ganz gleichgültig, in welchem Material). Darin besteht eben das Talent, daß der Gedanke in der Ausführung beruht und – die Ausführung im Gedanken, nicht, wie Idioten glauben, in der manuellen Geschicklichkeit (die bei jedem Künstler die conditio sine qua non ist).
(In Diether Schmidt: Schriften deutscher Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, Bde 1–2. Verlag der Kunst 1965, S. 271)
Doch bereits 1908 schrieb der Maler Hans Thoma (1839–1924) im Herbste des Lebens: gesammelte Erinnerungsblätter: „Bei uns nämlich muß der Künstler irgendwo hinaus wollen, immer etwas wollen, daher der viele Wulst in der Kunst. Er muß Zweck und Absicht bekennen und aussprechen können.“

Der eigentliche Urheber ist jedoch Ludwig Fulda (1862–1939) mit einem seiner Sinngedichte:
Weiß nicht, was echte Künstler sollen
Mit eurem theoretischen Schwulst;
Kunst kommt von Können, nicht von Wollen:
Sonst hieß es: „Wulst“.
(In Heft 15 des Magazins für Litteratur vom 14. April 1894; siehe Faksimile bei wikipedia)
Vielleicht hat Karl Valentin (1882–1948) mit seinem Ausspruch
Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst müsste es ja Wunst heißen 
auf dieses Sinngedicht zurückgegriffen. (Quelle: karl-valentin.de; siehe auch die hübsche Postkarte)

– Die Rezensentin einer Kunstausstellung, die den Referenten, der bei einem Vortrag im Rahmenprogramm der Ausstellung diese Worte aufgegriffen hatte, kritisierte mit: „Nein, Herr Wessel, vermutlich hieße sie dann ‘Wünst’. Denn wenn aus einem ‘ö’ ein ‘u’ wird, würde aus einem ‘o' ein ‘ü’“, hätte sich allerdings schlau machen sollen, bevor sie die Rezension schrieb. –

Auch der Duden 11: Redewendungen: Wörterbuch der deutschen Idiomatik von 2002 kennt das Zitat, schreibt es aber Robert Gernhardt zu: Als Quelle nennt er eine Sendung auf swr-online.de. Tatsächlich schreibt Gernhardt in seinem Pamphlet gegen den ewigen Dilettantismus:
„Antonio, höre mir gut zu. Habe ich dir jemals gesagt, Kunst kommt von Können, käme sie von Wollen, hieße sie Wulst? Vergiss es! Die Wulst hat gesiegt, die Kunst ist am Ende; zusammen mit dem Jahrtausend, das einige ihrer glorreichsten Siege sah, räumt sie geschlagen das Feld dem, der sie seit Anbeginn gewünscht und verwünscht, verteufelt und vergöttert hat: dem ewigen Dilettanten.“
(In Der letzte Zeichner: Aufsätze zu Kunst und Karikatur. Haffmans 1999, S. 9)
– Schade, ich würde mir wünschen, der Duden hätte genauer recherchiert. –

Bert Brecht wiederum schrieb:
Das Zeittheater beruht mehr auf dem Wollen, und daher müßte man für diese Kunst, die nicht dem Können, sondern dem Wollen entspringt, sinngemäß (wie ein schlagfertiger Kopf bemerkt hat) Wulst sagen. An diesem Wulst ist unsere Bühne zugrunde gegangen. Je unreifer ein Stück war, desto bereitwilliger wurde es dem Publikum vorgesetzt.
(In Richard Elsner (Hrsg.), Das Deutsche Drama in Geschichte und Gegenwart, Bd 4. Heyer 1932, S. 13)
Arnold Böcklin soll laut Schweizer Rundschau 1918, S. 224, gesagt haben: „Kunst kommt von Können, wenn es von Wollen käme, so hieß es Wulst“, und Hans von Bülow (1830–1894): „Kunst kommt vom Können, nicht vom Wollen, sonst hieße sie Wunst“ (zitiert nach OHLSDORF – Zeitschrift für Trauerkultur, 88 (2005)

Friedrich Gundolf (1880–1931) wiederum wird der Satz zugesprochen:
Kunst kommt von Können, aber immer ist Kunst „Sein“, nur Kunst kommt von Können, käme es vom Wollen, so hieße es „Wullst“, – und käme es vom Sein, – so hieße es „Sunst“! Kunst aber kommt vom Urbeginn her, vom Können, aber immer ist Kunst „Sein“, nur – „Sein“ ist noch lange keine Kunst.
(Zitiert nach W. Wagner & G. Weismantel: Aber die Schleichenden, die mag Gott nicht: Der Dichter und Volkserzieher Leo Weismantel: Festschrift zum 100. Geburtstag. P. Lang 1988, S. 193)
Der Maler Hermann Groeber (1865–1935) wird sogar in der Wikipedia als Urheber genannt. Eine Quelle gibt es jedoch nicht.

In einer Ausgabe des Aufbaus aus dem Jahr 1946 heißt es:
„Kunst kommt von Können“, pflegte Siegfried Jacobsohn zu sagen. „Käme sie von Wollen, sie hieße nämlich – Wulst …“ Und der pflegt an den einzigen Ort  „gefördert“ zu werden, der dafür in Frage kommt: – der Papierkorb“.
Hannes Reinartz schließlich wird mit den Worten zitiert
Kunst kommt nicht nur von Können – was unbestreitbar ist, denn käme es von Wollen, so hieße sie Wulst! – sondern darüber hinaus von Künden.
(Zitiert nach Ludwig Hoelscher zum 75. Geburtstag. Schneider 1982, S. 52)
Und nein von Heinz Erhardt, Karl Kraus und Kurt Tucholsky (und all den anderen oben genannten Urhebern, die hier nicht aufgeführt sind) stammen diese Worte sicher nicht.

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