Seiten

Donnerstag, 23. Juni 2011

Über den bösen Nachbarn


Wir alle sind Nachbarn, und wir alle sind jemandes Nachbar (eigentlich Nahebauer; von nahe und Bauer im Sinne von bauen, wohnen, also Nahewohner, Anwohner: jemand, der zu nahe baut). Und deshalb spielt der Nachbar auch eine große Rolle im Sprichwort. Wanders Deutsches Sprichwörter-Lexikon aus dem Jahr 1873 führt zu dem Stichwort 205 Sprichwörter auf (siehe Zeno.org)!

Am bekanntesten aber sind sicher Friedrich Schillers Worte aus dem Schauspiel Wilhelm Tell , die viele von uns schon seufzend, empört oder wütend gebraucht haben, wenn wir uns mal wieder mit dem Nachbarn über den Löwenzahn im Rasen oder über das mittägliche Toben der Kinder stritten:

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“

Allerdings hat das Originalzitat einen etwas anderen Wortlaut. Richtig heißt es:

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, / Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ (S. 142)

Und wieder die Frage: Hat Schiller diese Worte als erster gedichtet? Und wieder die Antwort: Nein. Vermutlich kannte er das Sprichwort „Aliquid mali esse propter vicinum malum“ aus den Sprichwörtersammlung des Erasmus von Rotterdam Adagia quaecumque ad hanc diem exierunt (Giunta 1575, S. 41).

Erasmus zitiert dort die Worte des Komödiendichters Titus Maccius Plautus (254–um 184 v. Chr.) aus der Komödie Mercator (Der Kaufmann), die wiederum auf der Komödie Emporos (Der Kaufmann) des griechischen Komödiendichters Philemon (um 360–um 264 v. Chr.) beruhen (siehe dazu auch Eckard Lefèvre: Plautus und Philemon):
Nunc ego verum illud verbum esse experior vetus:
Aliquid mali esse propter vicinum malum. (S. 434)

Jetzt habe ich die Wahrheit des alten Wortes erfahren, daß von bösen Nachbarn Böses kommt (auch daß einem deshalb etwas Böses widerfährt, weil man einen bösen Nachbarn hat).
Now I find that saying is true, “something bad comes from a nearby evil.” (auch: Bad comes of a bad neighbour).
Ist Ihnen etwas aufgefallen? Genau, Plautus spricht von einem „alten“ Sprichwort. Und tatsächlich führt Erasmus es auf den griechischen Dichter Hesiod (lat. Hesiodus) (um 700 v. Chr.)  zurück, der „elegant“ in seinem epischen Lehrgedicht Werke und Tage (Opera et dies) schreibt:
… noxa est, vicinus ut improbus, ingens:
Contra ita maxima commoditas, si commodus adsit.
Deest honor huic, bona quem vicinia deficit … 
Ein böser Nachbar ist ein ebenso großes Übel, wie der gute ein Segen ist.
Wem es an Ehre mangelt, dem fehlt die gute Nachbarschaft.
A bad neighbour is as great an evil as good one is a blessing;
he who is  granted a good neighbour is granted value as well.
– Wie Erasmus weiter schreibt, erinnerten sich an diesen Spruch jedoch nicht nur Privatpersonen und Nachbarn, sondern auch benachbarte Völker, die sich bekämpften und einander Niederlagen beibrachten, worauf wohl auch Vergil (eigentlich Publius Vergilius Maro; 70–19 v. Chr.) im ersten Hirtengedicht anspiele: 
Non insueta graves temptabunt pabula, fetas
Nec mala uicini pecoris contagia laedent. (S. 6)

Kein ungewohntes Futter wird die trächtigen Schafe in Gefahr bringen,
und keine schädlichen Kontakte zum Vieh des Nachbarn werden ihnen etwas zuleide tun.
Through taint contagious of a neighbouring flock.
Nor do the contagious diseases of nearby cattle work harm, doubtless alludes.
Manchmal wird auch als Ursprung des Zitats auch  Vers 33 aus der fünfzehnten Satire des Juvenal (eigentlich Decimus Iunius Iuvenalis; 60–130 n. Chr.) genannt:
Inter finitimos vetus atque antiqua simultas,
Inmortale odium et numquam sanabile vulnus
Ardet adhuc, Ombos et Tentura.
(Etwa: Ewiger Streit zwischen den Nachbarstaaten, / Unsterblicher Hass und niemals heilbare Wunden / brennen weiter in Ombos und Tentura.
Frei übersetzt: „Es kan keiner lenger friede haben, denn sein nachpawr wil“ – „Niemand kann länger Frieden haben, als sein Nachbar will“ (auch „Es kann keiner länger Frieden haben, als sein Nachbar“, laut Wikipedia „als seinem Nachbarn beliebt“).
No one can have peace longer than his neighbour pleases.
Den gode har ei længer fred end den onde lyster.
Man har ei længre fred, end sin naboe vil.
Nessuno può star piu tempo in pace di quello che vogliono gli suoi vicini.
Senki tovább nem lehet békeségben, hanem csakaddig még a szomszédja akarja
Niemand kan langer vrede hebben, dan zijn nabuur will**


– kurz und knapp: Böser Nachbar, ewiger Krieg –
Aber vielleicht kannte Schiller auch die Worte des Franziskaners Kaspar Schatzgeyer (auch Gaspar Schatzger):
Es ist ein allt sprichwort, ainer hat von aussen so lanng frid, als lanng sein nachtper wil“
(In – und weil der Titel so schön ist, folgt er hier in voller Länge –: Vorrede des  Sendbriefs Wider herr Hansen von Schwartzenbergs neülich außgangen püechlin von der Kirchendiener vn[d] gaystlichen personen Ee. Auß gründtlicher erkläru[n]g des heyligen Pauli sprüchs 1.Thimo.4. in dem er redet von verpietu[n]g der Eelich werdung, vn[d] enthalltung von ettlicher speyß. Mit anhenngung ettlicher andern mitlauffender materyen, ainem yeden Criste[n] nützlich zervissen, 1527, S. 5
Auch in Latein gibt es viele Sprichwörter zum Thema Nachbarn. Aber diese sind nicht Thema dieses Posts.

*weitere Übersetzungen siehe Ida von Reinsberg-Düringsfeld:
Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprachen vergleichend

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen