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Mittwoch, 21. September 2011

Über Martin Opitz' Gedicht „Carpe diem“

Da wollte ich gerade in mein Schreibblog passend zu meinen Ausführungen zum Motto Carpe diem ein Gedicht mit diesem Titel aus der Feder des Barockdichters Martin Opitz (1597–1639) einstellen. Ich googelte also, um die Originalquelle zu finden, tja, und nun ist es hier gelandet.

Denn ein Gedicht von Opitz mit diesem Titel gibt es gar nicht. Ich fand stattdessen Bezeichnungen wie Lustlied, Guter Entschluß, Lebenslust, Ode XVIII, Sinnesänderung, Gelahrtheit und in Achim von Armins Des Knaben Wunderhorn den Titel Überdruß der Gelahrtheit. Meist wird aber nur die erste Zeile des Gedichts angegeben: Ich empfinde fast ein Grauen. Bei der Wikisource fand ich zwar das Gedicht mit dem Titel Carpe diem, aber dazu die Anmerkung: „Der Titel stammt nicht aus dem Original.“ Aha. Aber warum wird es fälschlich so genannt? Vielleicht, weil im 20. Jahrhundert jemand schrieb, das Gedicht umschreibe das Horaz’sche Carpe Diem.

Also recherchierte ich weiter. Bevor ich dazu etwas schreibe, möchte ich Ihnen jedoch das Gedicht mit dem Titel, ach lassen wir das, was auch immer, vorstellen:

Ich empfinde fast ein Grauen,
Daß ich, Plato, für und für
Bin gesessen über dir;
Es ist Zeit hinaus zu schauen
Und sich bei den frischen Quellen
In dem Grünen zu ergehn,
wo die schönen Blumen stehn
Und die Fischer Netze stellen.

Wozu dienet das Studieren
Als zu lauter Ungemach?
Unterdessen läuft die Bach
Unsers Lebens, uns zu führen,
Ehe wir es inne werden,
Auf ihr letztes Ende hin,
Dann kömmt ohne Geist und Sinn
Dieses alles in die Erden.

Holla, Junge, geh und frage,
Wo der beste Trunk mag sein,
Nimm den Krug und fülle Wein.
Alles Trauren, Leid und Klage,
Wie wir Menschen täglich haben,
Eh der Strom uns fortgerafft,
Will ich in den süßen Saft,
Den die Traube gibt, vergraben.

Kaufe gleichfalls auch Melonen
Und vergiß des Zuckers nicht;
Schaue nur, daß nichts gebricht.
Jener mag der Heller schonen,
Der bei seinem Gold und Schätzen
Tolle sich zu kränken pflegt
Und nicht satt zu Bette legt:
Ich will, weil ich kann, mich letzen.

Bitte meine guten Brüder
Auf die Musik und ein Glas:
Kein Ding schickt sich, dünkt mich, baß
Als ein Trunk und gute Lieder.
Laß ich schon nicht viel zu erben,
Ei so hab ich edlen Wein,
Will mit andern lustig sein,
Wann ich gleich allein muß sterben.

(Martin Opitz: Überdruß der Gelahrtheit. Aus Des Knaben Wunderhorn. In Achim von Arnims Werke, Bd. 3. Insel o. Jg. (1911),  S. 296)

Ich empfinde fast ein Grawen
Daß ich, Plato, für vnd für
Bin gesessen vber dir;
Es ist Zeit hinaußzuschawen
Vnd sich bey den frischen Quellen
In dem grünen zu ergehn,
Wo die schönen Blumen stehn,
Vnd die Fischer Netze stellen.

Wozu dienet das Studieren
Als zu lauter Vngemach?
Vnterdessen lauft die Bach
Vnsers Lebens, das wir führen,
Ehe wir es inne werden,
Auff ihr letztes Ende hin,
Dann kömpt ohne Geist vnd Sinn
Dieses alles in die Erden.

Hola, Junger, geh’ vnd frage
Wo der beste Trunck mag seyn,
Nimb den Krug, vnd fülle Wein.
Alles Trawren, Leid vnd Klagen
Wie wir Menschen täglich haben
Eh’ vns Clotho fort gerafft
Will ich in den süssen Safft
Den die Traube giebt, vergraben.

Kauffe gleichfals auch Melonen,
Vnd vergiß des Zuckers nicht;
Schawe nur daß nichts gebricht.
Jener mag der Heller schonen.
Der bey seinem Gold vnd Schätzen
Tolle sich zu krencken pflegt,
Vnd nicht satt zu Bette legt:
Ich will, weil ich kann mich lezen.

Bitte meine gute Brüder
Auff die Music vnd ein Glaß:
Kein Ding schickt sich, dünckt mich, baß,
Als ein Trunck vnd gute Lieder.
Laß ich schon nicht viel zu erben,
Ey so hab ich edlen Wein.
Will mit andern lustig seyn,
Wenn ich gleich allein muß sterben.


(In Gottfried Brun: Versuch einer Geschichte der deutschen Dichtkunst, Dichter und Dichterwerke von ihrem Ursprung bis auf Bodmer und Breitinger, und Poetische Versuche. Müllers Wittwe 1782, S. 131)

(Eine sozusagen niederschmetternde Kritik aus dem Jahr 1859 zu Opitz’ Gedicht habe ich bei der Gelegenheit hier gefunden)

Und dann gibt es natürlich einige Parodien wie Die Eitelkeit oder Marnia und ein Buch. Auch die Wendung „Hola, Junger, geh’ …“ wurde oft parodiert, zum Beispiel so „Hola, Junger, geh vnd siehe, Wo die Federn mögen seyn“.

Bei meinen weiteren Nachforschungen stellte ich dann fest  – und nun kommt’s –, dass Opitz’ berühmtes Gedicht nichts weiter ist als ein Nachdichtung der Ode 22 aus dem zweiten Odenbuch von Pierre de Ronsard:

A Son Laquais

J’ay l’esprit tout ennuyé
D’avoir trop estudié
Les Phenomenes d’Arate:
Il est temps que je m’esbate,
Et que j’aille aux champs jouer.
Bons Dieux! qui voudroit louer
Ceux qui, collez sur un livre?
N’ont jamais soucy de vivre?

Que nous sert l’estudier,
Sinon de nous ennuyer,
Et soin dessus soin accroistre
A nous qui serons peut-estre,
Ou ce matin, ou ce soir
Victime de l’Orque noir?
De l’Orque qui ne pardonne,
Tant il est fier, à personne?

Corydon, marche devant,
Sçache où le bon vin se vend:
Fay refraischir la bouteille,
Cherche une fueilleuse treille
Et de fleurs pour me coucher.
Ne m’achete point de chair,
Car tant soit-elle friande,
L’esté je hay la viande.

Achete des abricos,
Des pompons, des artichos,
Des fraises, et de la crême:
C’est en Esté ce que j’aime,
Quand sur le bord d’un ruisseau
Je la mange au bruit de l’eau,
Estendu sur le rivage,
Ou dans un autre sauvage.

Ores que je suis dispos,
Je veux rire sans repos,
De peur que la maladie
Un de ces jours ne me die:
Je t’ay maintenant veincu,
Meurs, galland, c’est trop vescu.

(In C.-A.  Sainte-Beuve: Ouvres Choisies de P. de Ronsard. Garnier 1828, S. 122)

– Und wieder einmal habe ich festgestellt, dass man auch Gedichte nicht einfach so übernehmen kann. So manches Mal kommt bei der Recherche wahrlich Überraschendes ans Licht. –

(Zu dem Zitat "Carpe diem" selbst siehe http://juttas-schreibblog.blogspot.de/2012/08/carpe-diem.html   und http://juttas-zitateblog.blogspot.de/2011/09/carpe-diem.html)

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