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Dienstag, 20. September 2011

Carpe diem


Das bekannteste Zitat überhaupt ist wohl das „Carpe diem“ von Horaz aus dessen Ode an Leuconoe

Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi
Finem Dì dederint, Leuconoe, nec Babylonios
Tentaris numeros. Ut melius, quidquid erit, pati!
Seu plures hìemes, seu tribuet Iupiter ultimam,
Quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare
Tyrrhenum; sapias, vina liques, et spatio breui
Spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit invida
Aetas: carpe diem, quam minimum credula postero.
(In Quintus Horatii Flacci Opera, 1829, S. 13)

Niemals forsche du nach — Frevel ja wär's — welches der Tage Ziel
Mir die Götter gesetzt, welches dir selbst, noch babylonische
Zahlenkünste versucht! Besser führwahr dulden wir jedes Loos!
Ob noch Winter hinfort Jupiter schenkt, ob es der letzte sei,
Der durch Felsenklipp jetzo die Wuth schwächet Wuth schwächt der tyrrhenischen
Meeresfluth. Zeige dich klug, läutere Wein, setze bei kurzen Frist
Langer Hoffnung ein Ziel. Neidisch entflieht, während wir sprechen, die
Jugend: hasche den Tag, wenig Vertrau’n schenke dem morgenden!
(In Quintus Horatius Flaccus Werke. Deutsch … von Dr. Wilhelm Binder. 5. Aufl. Krais und Hoffmann 1861, S. 12)

Seek not, Leuconoë — 'tis forbid to know —
On me, and you what end the gods bestow;
No more for Babylonian numbers care; But what the Fates decree with patience bear!
If Jove more winters grant, or now the last
Embroil the rocks and wafes with Tuscan blast.
Be wise: — rack off your wines, while yet you can,
Restraining hope to life’s contracted span.
Even now what speed the envious seasons borrow!
Seize on to-day; — nor trust the uncertain morrow.
(In The Odes of Horace, translated by John Scriven. Pickering 1843, S. 21)

Natürlich darf eine Parodie von Christian Morgenstern nicht fehlen …

Laß das Fragen doch sein! Sorg dich doch nicht über den Tag hinaus!
Martha! Geh nicht mehr hin, bitte, zu der dummen Zigeunerin!
Nimm dein Los, wie es fällt! Lieber Gott, ob dies Jahr das letzte ist,
das beisammen uns sieht, oder ob wir alt wie Methusalem
werden: sieh’s doch nur ein: das, lieber Schatz, steht nicht in unsrer Macht.
Amüsier dich, und laß Wein und Konfekt schmecken dir wie bisher!
Seufzen macht mich nervös. Nun aber Schluß! All das ist Zeitverlust!
Küssen Sie mich, mon amie! Heute ist heut! Après nous le déluge!
(In Christian Morgenstern: Horatius travestitus: ein Studentenscherz. Schuster & Loeffler 1897; zitiert nach http://12koerbe.de/pan/horaz.htm#I,11)

Eigentlich heißt Carpe diem „Pflücke den Tag“ (von lat. carpio = (dicht.) pflücken, dies = Tag) , aber naturgemäß gibt es auch andere Übersetzungen, und jeder Leser möge sich die heraussuchen, die ihm am besten gefällt:

Fröhlich pflücke das »Heut«, trau’ nicht auf das, was Dir ein »Morgen« bringt.
(Die Oden des Quintus Horatius Flaccus: Deutsch im Versmaße des Originals, 1866, S. 20)

Pflücke den Tag, auf den folgenden vertraue so wenig leichtgläubig wie möglich. (http://www.latein-lk.de/Texte/Horaz/ode_1_11.htm)

Pflücke dir den Tag, und glaube so wenig wie möglich an den nächsten! (http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_gefl%C3%BCgelter_Worte/C)

Genieße den Augenblick und verlaß dich so wenig wie möglich auf den folgenden.
(http://members.aon.at/latein/Horaz1.htm)

Genieße den Tag, möglichst wenig leichtgläubig gegenüber dem folgenden! (http://de.wikipedia.org/wiki/Carpe_diem)

Schenk dem kommenden Tag nimmer Vertraun, koste den Augenblick! (http://gutenberg.spiegel.de/buch/5541/1)

Oder frei übersetzt in Friedrich von Schillers Macbeth:
Nicht in die ferne Zeit verliere dich! / Den Augenblick ergreife! Der ist dein.
(F. v. Schillers sämmtliche Werke, 1816, S. 239)
(Für alle, die es noch genauer wissen möchten: auf http://www.albertmartin.de/latein/forum/?view=6511 gibt es eine Diskussion über die korrekte Übersetzung des Zitats)

– Die Übersetzung „Nutze den Tag, koste den Augenblick“ ist allerdings doppeltgemoppelt. –

Und dann gibt es natürlich auch noch die Kurzformen: „Nutze den Tag“ und „Nutze die Zeit“.

Wie auch immer: Leider ist das Carpe diem inzwischen zu einer Phrase geworden, weil zu oft verwendet und gelesen.

(Siehe auch http://juttas-schreibblog.blogspot.de/2012/08/carpe-diem.html und zu Martin Opitz' Gedicht Carpe diem http://juttas-zitateblog.blogspot.de/2011/09/uber-martin-opitz-gedicht-carpe-diem.html)

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