Seiten

Mittwoch, 13. Juli 2011

Vor Männern, die behaupten, dass sie ein Amt nicht für sich selbst anstreben …: Über ein Zitat Ciceros, das es nicht gibt


Bei seiner Festrede anlässlich der Verleihung des Preises „Das politische Buch“ 2011 der Friedrich-Ebert-Stiftung an Peer Steinbrück für dessen Werk Unterm Strich sprach Wolfgang Schäuble auch über dessen eventuelle Kanzlerkanditatur im Jahr 2012 und zitierte dabei Marcus Tullius Cicero:
Vor Männern, die behaupten, dass sie ein Amt nicht für sich selbst anstreben, muss man sich in Acht nehmen. Das sind die eitelsten von allen. (Nach anderen Quellen auch „… muss man sich immer in Acht nehmen …“ oder … dass sie ein Amt nicht anstreben …).

Always beware of the man who says he is not seeking office for himself, for he is the vainest of the lot.
Nur gibt es für dieses Zitat keinen Beleg.

Tatsächlich stammt es aus dem Roman Imperium* (von lat. = Macht, das Recht zu befehlen) von Robert Harris, in dem dieser Ciceros Sekretär und engsten Vertrauten, den Sklaven und späteren Freigelassenen Marcus Tullius Tiro, vor allem bekannt als mutmaßlicher Erfinder des römischen Kurzschriftssystems, über Ciceros Aufstieg zum großen Redner und Staatsmann berichten lässt und dabei einen tiefen Einblick in den Menschen Cicero gewährt und historische Ereignisse aus dessen Umfeld liefert.

So schreibt Tiro unter anderem über Gaius Licinius Sacerdos**, einen der Mitkandidaten Ciceros für das Amt des Konsuls:
Sacerdos war einer jener irritierenden Kandidaten, die „keine persönlichen Ziele verfolgten“, wie sie gern sagten, sondern denen es ausschließlich um „Sachfragen“ ging. Über solche Leute pflegte Cicero zu sagen: „Vor Männern, die behaupten, dass sie ein Amt nicht für sich selbst anstreben, muss man sich in Acht nehmen. Das sind die eitelsten von allen.“ (Robert Harris: Imperium. Heyne 2. Aufl. 2006, S. 405)

Sacerdos was one of those irritating candidates who enter elections „not out of any personal ambition“, as they like to say, but solely with the intention of „raising issues“. „Always beware of the man who says he is not seeking office for himself“, said Cicero, „for he is the vainest of the lot“. (Robert Harris: Imperium: A Novel of Ancient Rome. Simon und Schuster 2006, S. 258)
Die Biographie über Cicero, die Tiro in griechischer Sprache verfasste, gab es tatsächlich, nur ging sie beim Untergang des Römisches Reiches verloren. Belegt ist sie aber durch Plutarch, der auf sie für seine Cicero-Vita  zurückgegriffen haben soll (siehe auch Herman Peter: Quellen Plutarchs. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1865, S. 129ff.).  Auch Quintus Asconius Pedianus bezieht sich laut Robert Harris in Pro Milone 38 auf das vierte Buch Tiros über Ciceros Leben (S. 7).**

Harris greift in seinem Roman auf historisch Belegtes zurück, und der „Rest könnte sich zumindest so ereignet haben“, wie er schreibt. Und er hofft, dass er nichts geschrieben hat, was nachweislich falsch ist. Bei den Recherchen für seinen Roman hat er unter anderem die neunundzwanzig Bände umfassende Ausgabe von Ciceros Reden und Briefen studiert. Alle belegten Aussagen, ob es nun die aus einem Brief an seinen Freund Titus Pomponius Atticus sind oder die seines Bruders Quintus Tullius in dessen Handbuch mit Tipps für  Wahlkämpfe, dem Commentariolum petitionis (auch De petitione consulatis; Empfehlungen zur Bewerbung um den Konsulat; Little Handbook on Electioneering, auch bekannt als On Running for the Consulship), das er für Ciceros Bewerbung um das Konsulat verfasste, sind kursiv gedruckt und damit als belegte Quelle kenntlich gemacht.

Autoren von fiktiven Biographien steht natürlich frei zu schreiben, was ihnen ihre Phantasie eingibt. Robert Harris wird jedoch in Anbetracht seines Quellenstudiums Cicero Worte in den Mund gelegt haben, die dieser jederzeit hätte sagen können. 

Langer Worte kurzer Sinn: Wolfgang Schäuble und alle Zitatensammlungen zitieren nicht Cicero, sondern Robert Harris.

(Siehe dazu auch die Ausführungen zum Thema „Die Rezeption der römischen  Antike im historischen Roman der Gegenwart“)

*Leseprobe in Deutsch siehe bilandia.de/multimedia/leseproben/9783453265387.pdf
**Wahrscheinlich meint Harris damit den Kommentar von Asconius Pedianus zu Ciceros Rede Pro T. Annio Milone (Für Titus Annius Milo), in dem er das vierte Buch von Tiro, die Disputatio historico–critica, zitiert (siehe auch Geschichte der römischen Literatur, 1832, S. 389)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen