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Sonntag, 24. Juli 2011

Auf den Spuren von Goethes Nachtlied(ern)


Vor einigen Jahren hatte ich in meinem Sprachrätsel No. 9 eine Frage gestellt, bei dessen Antwort mir etwas Merkwürdiges passierte. Je mehr ich noch einmal recherchierte, um so verwirrter wurde ich. Schließlich kam ich mir wie eine Archäologin vor, die eine alte Stadt ausgraben will und unter der Stadt noch eine entdeckt und noch eine … Aber der Reihe nach.

Ich hatte gefragt, ob Goethes Gedicht Ein gleiches ein Plagiat dieses Gedichtes ist:

Unter allen Gipfeln ist Ruh;
In allen Wäldern hörest du
Keinen Laut!
Die Vögelein schlafen im Walde;
Warte nur! Balde, balde
Schläffst auch du!

Nur hatte ich die Frage offensichtlich falsch gestellt. Denn es kann kein Plagiat sein. Als Autor dieses Gedichts (Version 1 des Gedichts im Sprachrätsel) galt Johann Daniel Falk, ein Gastfreund Goethes. Aber bei meinen nochmaligen Recherchen stellte ich fest, dass das die ursprüngliche Fassung des Gedichtes ist (bezeugt von Falk selbst), das Goethe am 6. 9. 1780 (nicht am 7. 9. 1783, wie lange Zeit wegen des neben den Versen stehenden Datums angenommen wurde – an dem Tag hatte er die Inschrift erneuert, wohl weil sie ihm so wichtig war) an die Bretterwand der Jagdhütte auf dem Kickelhahn geschrieben hatte, in der er bei seinen Wanderungen durch die Natur öfter übernachtete. An besagtem Septembertag im Jahr 1780 stieg er auf den »höchsten Berg des Reviers«, »um dem Wuste des Städtchens, den Klagen, den Verlangen, der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen«*, und schuf vermutlich aus dieser Stimmung heraus das Gedicht.

Als die Hütte, die 1870 abgebrannt war, originalgetreu wieder aufgebaut worden war, wurde ein Faksimile seiner Inschrift angebracht, die in etwa der Version entsprach, die Goethe 1815 in seine Werkausgabe aufgenommen hatte (denn auch Goethe hat an seinen Versen immer wieder gefeilt):

Über allen Gipfeln 
ist Ruh,
In allen Wipfeln 
Spürest du
Kaum einen Hauch!
Die Vögel schweigen im Walde
Warte nur balde
Ruhest du auch.

Falk schrieb die folgenden Verse als 1. Strophe des Abendlieds in Anlehnung an Goethe (auch wenn er selbst angibt »Der erste Vers von Göthe«)**:

Unter allen Wipfeln ist Ruh;
In allen Zweigen hörest du
Keinen Laut;
die Vöglein schlafen im Walde;
Warte nur, balde, balde,
Schläffst auch du.**

Nach eigenen Angaben hat er sie 1817 geschrieben, er könnte aber die Umdichtung von Hauch in Laut schon einige Jahre eher, also zu Heinrich von Kleists Lebzeiten, vorgenommen haben. Denn von Kleist stammt diese Version (Version 2):

Unter allen Zweigen ist Ruh,
In allen Wipfeln hörest du
Keinen Laut.
Die Vögelein schlafen im Walde,
Warte nur, balde
Schläfest du auch!

Er hatte sie ohne Angabe von Ort und Datum auf einen Zettel geschrieben. Die Kleistforschung geht allerdings davon aus, dass das Gedicht nicht vor 1805 entstanden ist, da Kleist seine Handschrift damals umgestellt hatte, andererseits glaubt sie nicht, dass er es 1808 geschrieben hat als »Gegengedicht« oder gar Polemik gegen Goethe, weil dieser die Uraufführung des Zerbrochenen Krugs am 2. 3. 1808 am Weimarer Theater durchfallen ließ (siehe die Wendung »Warte nur, balde / Schläfest du auch!« als ‘Todesdrohung‘ gegen Goethe …). Es könnte sein, dass Kleist sich an die genaue Version nicht mehr erinnert hat. Aber er hat die Jagdhütte nie besucht, und in Goethes Werken ist das Gedicht erst 1815, vier Jahre nach Kleists Freitod, erschienen. Andererseits kursierten bereits kurz nach Goethes Niederschrift Abschriften des Kickelhahn-Textes in zahleichen Varianten. Falk und Kleist wiederum sind sich im Sommer 1803 in Dresden begegnet.

Kannte daher Kleist die Verse? Lange nahm man an, dass er sie aus der von August von Kotzebue herausgegebenen Zeitschrift Der Freimüthige, oder Berlinische Zeitschrift für gebildete, unbefangene Leser kannte, der in jedem Heft gegen Goethe giftete. Am 20. 5. 1803 hatte er Goethes Verse in einer Übersetzung aus der englischen Zeitschrift The Monthly Magazine anonym mit der Variante Vöglein statt Vögel veröffentlicht (die 3. Version):

Ueber allen Wipfeln ist Ruh,
In allen Zweigen hörst du
Keinen Hauch;
Die Vöglein schlafen im Walde,
Warte nur, balde
Schläfst du auch.

Aber inzwischen ist man fündig geworden. Denn der Autor des vom Monthly Magazine aus dem Deutschen übersetzten Gedichts war der Schriftsteller und Philosoph Joseph Rückert, der Goethes Gedicht unauthorisiert in Bemerkungen über Weimar 1799, wahrscheinlich auch nach einer der vielen kursierenden Abschriften, abgedruckt hatte. Im Rahmen eines anonymen Fortsetzungsberichts der Bemerkungen wurden die Verse im Heft 3 (1800) der Zeitschrift Genius der Zeit veröffentlicht. Eine gekürzte Übersetzung dieser Bemerkungen wurde 1800 wiederum in der Londoner Zeitschrift The German Museum:  Or Monthly Repository of the Literature of Germany, the North and the Continent in general abgedruckt.  Erst von dort aus gelangten sie in das Monthly Magazine.

Haben also Kotzebue beziehungsweise Rückert Goethes Verse ‘verballhornt‘? Anderseits könnte diese Version auch beim Hin- und Herübersetzen aus dem Deutschen ins Englische und wieder zurück entstanden sein.

Die Gelehrten streiten also nicht darüber, ob das Gedicht ein Plagiat ist, sondern wer warum wann was geschrieben hat.

Nach dem ganzen Durcheinander mit »Unter« und »Über«, mit »Wipfeln«, »Gipfeln« und »Zweigen«, »Laut« »Hauch«, »Vögelein«, »Vöglein«, »Vögeln« und Ausrufezeichen hier noch einmal Goethes Gedicht Ein gleiches*:

Über allen Gipfeln
ist Ruh',
In allen Wipfeln
Spürest Du
kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

Um die Frage zu beantworten, warum die Verse Ein gleiches heißen: 1776 hatte Goethe das Gedicht Wandrers Nachtlied geschrieben, dem er Über allen Gipfeln ist Ruh … gleichsam als Antwort gegenüber stellte:

Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!

In diesem Gedicht drückt Goethe die Sehnsucht des an der Unvollkommenheit der Welt leidenden Wanderers nach Ruhe aus, in Ein gleiches ist das Leiden nicht mehr das Thema, sondern die Erlösung davon: Das »Treiben« wird zur »Ruh«.

Goethe hatte beim Druck seiner Werkausgabe 1815 bestimmt, dass die beiden Gedichte immer zusammen gedruckt werden. Nur wurde das zweite Gedicht immer wieder unautorisiert abgedruckt und wurde so zum berühmtesten Gedicht der deutschen Sprache … (Die heute per Abmahnung so bekämpfte ungenehmigte Verbreitung von Gedichten und Texten im Internet hat also nicht nur Nachteile.)

Aber noch einmal zurück zum Sprachrätsel: Johannes Daniel Falk ist auch der Verfasser der ersten Strophe von O du fröhliche.

 *In Göthe's Briefe an Frau von Stein aus den Jahren 1776 bis 1826, Bd. 1. Weimar 1848, S. 332
**Siehe dazu auch Zeitschrift für das Gymnasialwesen, S. 86
***Es gibt eine Anekdote zu dem Gedicht: Goethe wurde Jahre später, am 27. 8. 1831, also am Vorabend seines 82. Geburtstags, ein besonderer Wunsch erfüllt: Er fuhr mit dem Berginspektor Mahr auf den Kickelhahn, um sich das Gedicht anzuschauen. Er war sehr ergriffen, wie Mahr berichtet:
Göthe überlas diese wenigen Verse, und Thränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock , trocknete sich die Thränen und sprach in einem sanften, wehmütigen Tone: Ja, warte nur, balde ruhest du auch! schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düstern Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den Worten: nun wollen wir wieder gehen.
(Den berührenden Bericht Mahrs über den Ausflug, aus dem auch das Zitat stammt, können Sie hier lesen)
(Literatur u. a. www.goethezeitportal.de/index.php?id=2366; www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=8927&ausgabe=200601

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