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Dienstag, 26. April 2011

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht …


Eines der ersten Sprichwörter, mit erhobenem Zeigefinger und strengem Blicke vorgetragen, das wir lernten, war

»Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.« (Auch: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann bzw. …gleich die Wahrheit spricht.)

A liar is not believed even though he tell the truth.
Liars aren't believed even when they are telling the truth.
We give no credit to a liar, even when he speaks the truth.
Lažnivcu navadno ne verjamemo niti takrat, kadar govori resnico
Lögnarna tror man intenditur ens när de talar sanning.

Nur: Wieder einmal die Frage: Ist das überhaupt ein Sprichwort? Antwort: Jein.

Für den Ursprung des Sprichworts gibt es zwei Quellen. Die erste Quelle ist die Fabel Wolf und Fuchs vor dem Richterstuhl des Affen von Aesop (6. Jahrhundert v. Chr.) – fälschlich Phädrus (um 20 v. Chr. – um 51 n. Chr.) zugesprochen; der hatte Aesop jedoch nur zitiert –:

Wen einmal zeichnet des Betruges Makel,
Verliert, auch wo Wahrheit spricht, den Glauben:
Die kurze Fabel von Aesop bezeugt’s.

Der Wolf bezichtigte den Fuchs des Diebstahls;
Der leugnet allen Anteil an der Schuld:
Zu schlichten saß der Affe zu Gericht.
Als beide ihre Sache vorgetragen,
Erteilt der, wie erzählt wird, die Sentenz:
»Du, scheint’s, verlorst gar nicht, worauf du klagst,
Du, glaub' ich, stahlst, was du so schön verleugnest.«

Lupus et Vulpis Iudice Simio

Quicumque turpi fraude semel innotuit,
Etiam si verum dicit, amittit fidem.
Hoc adtestatur brevis Aesopi fabula: –

Lupus arguebat vulpem furti crimine;
Negabat illa se esse culpae noxiam.
Tunc iudex inter illos sedit simius.
Uterque causam cum perorassent suam,
Dixisse fertur simius sententiam:
»Tu non videris perdidisse quos petis;
Te credo subripuisse quod pulchre negas.«

(In Phädrus des Freigelassenen des Augustus Äsopische Fabeln, verdeutscht von Johannes Siebelis. Hoffmann’sche Verlags-Buchhandlung 1857, S. 7f.)

(Diese Fabel findet sich auch unter dem Titel Der Affe als Richter zwischen Wolf und Fuchs bei Jean de La Fontaine (1621–1695.)

Die Verse »Quicumque turpi fraude semel innotuit, / Etiam si verum dicit, amittit fidem« gab Marcus Tullius Cicero (106 v. Chr. – 43 v. Chr.) in Rhetorica, De Divinatione Liber II, 71 146 folgendermaßen wieder:
Ut mihi mirum videatur, cum mendaci homini ne verum quidem dicenti credere soleamus, quo modo isti, si somnium verum evasit aliquod, non ex multis potentius uni fidem derogent, quam ex uno innumerabilia confirment.
Die Worte »Mendaci homini ne verum quidem dicenti credere soleamus«  (Einem Lügner pflegen wir nicht zu glauben, auch wenn er die Wahrheit spricht = Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht) wurden wiederum zu einem internationalen Sprichwort.

– Inwieweit sich Cicero auf Demetrios von Phaleron (Demetrios Phalereus) (um 345 v. Chr. – um 280 v. Chr.) bezieht, konnte ich nicht feststellen.  –

Georg Büchmann erwähnt Cicero in seinen Geflügelten Worten (Haude & Spener 1964) jedoch nicht. Er bezieht sich auf Andreas Tscherning (1611–1659), der 1642 die Verse »Quicumque turpi fraude semel innotuit, / Etiamsi verum dicit, amittit fidem« in seiner Fabel Lügen-Lohn, die mit den Worten »Ein junger Hirte war zu schreyen oft geflissen: / Kommt, Brüder, helft! der Wolf hat mir ein Schaff erbissen. / Wenn nun das Hirtenvolk gesammt zur Stelle war, / Da sprach er: Seyd zur Ruh, es hat noch nicht Gefahr« beginnt, folgendermaßen wiedergegeben habe:
Daß einem hier die Welt, der einmal Lügen liebt / Auch wenn er Wahrheit redt, nicht leichtlich Glauben gibt
und auf Ludwig Heinrich von Nicolays (1737–1820), der die Verse in seinem Gedicht Der Lügner, das mit den Worten beginnt »Ein böser Bub’ stellt’ oft sich lahm / und rief, er hätt’ ein Bein gebrochen; / doch wenn ihm der zu Hülfe kam, / den er um Beistand angesprochen: / so war der Dank alsdann: er wies / die Zähne dem, der sich betrügen ließ«, mit den Worten wiedergibt:
Man glaubt ihm selbst dann noch nicht, / Wenn er einmal die Wahrheit spricht.
(Allerdings wird Nicolay falsch zitiert; richtig heißt es: »Man glaubet ihm selbst dann auch nicht / Wann er einmal die Wahrheit spricht.«)
In einer anderen Ausgabe seiner Geflügelten Worte (Haude & Spener 1920) verweist Büchmann auf ein weiteres Gedicht mit dem Titel Der Hirtenknabe von Johann Benjamin Michaelis (1746–1772), das dieselbe Fabel wie die von Nicolay sei. Allerdings beginnt das Gedicht mit den Worten »Helft, Brüder! Helft! der Wolf hat schon ein Schaf im Rachen!« / So rief ein junger Hirt, sich eine Lust zu machen. / Wann nun das Hirtenvolk herbeigelaufen war. / Dann rief er: Geht zur Ruh’, es hat noch nicht Gefahr! / »Ich habe nur versucht, / ob ihr auch wachsam wäret«, und der Titel ist auch nicht Der Hirtenknabe, sondern Der Lügner oder auch Lohn der Lügen. – Allerdings werden als Autor wiederum Nicolay, Karl Wilhelm Ramler (wohl weil er eine Fabelsammlung mit dem Gedicht ohne Angabe des Autors herausgegeben hatte) und Johann Wilhelm Ludwig Gleim genannt (der wiederum wohl deshalb, weil Michaelis eine zeitlang in dessen Haus lebte). Es endet mit den Worten:
Nun ward der Thor erst inne, / Wie albern er gethan; nun kam ihm erst zu Sinne / Das Sprüchwort: »daß man dem, der einmal Lügen übt, / Auch wenn er Wahrheit spricht, nicht leicht mehr Glauben giebt.«
Daraus habe »sich die landläufig genauere Übertragung gebildet« (Büchmann)
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,
und wenn er auch die Wahrheit spricht.
Nur – hier irrt Büchmann. Denn Tscherning bezieht sich in seinem Gedicht auf Aesops Fabel Der Schäfer und der Wolf, auch bekannt als Der Hirtenjunge und der Wolf, Der lügenhafte Hirtenknabe oder Der Junge, der Wolf schrie, und das ist die zweite Quelle:

De Puero Oves Pascente

Puer quidam cum oues eminentiori in loco depasceret,  sæpius clamabat, heus o a lupis mihi succurrite. Qui circum aderant cultores agrorum, cultum omittentes, ac illi occurrentes, atque nihil esse comperientes, ad opera sua redeunt. Cum pluries puer id ioci causa fecisset, ecce cum lupus pro certo adesset, puer ut sibi succurratur serio clamat. Agricolæ id uerum non esse putantes, cum minime occurrerent, lupus oues facile perdidit.
→ Fabula significat, quod qui cognoscitur mentiri, ei ueritas postea non creditur.

(Quelle: http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd16/content/pageview/2240456)

Leider gibt es für diese Fabel keine gute Übersetzung. Eine Übersetzung, die mit den Worten beginnt: »Es war einmal ein Hirtenjunge, der jeden Tag die Schafe hütete. Jeden Morgen holte er die Tiere von ihren Besitzern ab und trieb sie in die Berge, wo die Schafe grasen sollten. Am Abend brachte er sie gewissenhaft zurück ins Dorf«können Sie hier lesen.

Näher kommt diesem Text die englische Version 

The Shepherd’s Boy and the Wolf (auch: The Story of the Boy Who Cried ‘Wolf)

A shepherd-boy, who watched a flock of sheep near a village, brought out the villagers three or four times by crying out, „Wolf! Wolf!“ and when his neighbors came to help him, laughed at them for their pains. The Wolf, however, did truly come at last. The Shepherd-boy, now really alarmed, shouted in an agony of terror: „Pray, do come and help me; the Wolf is killing the sheep“; but no one paid any heed to his cries, nor rendered any assistance. The Wolf, having no cause of fear, at his leisure lacerated or destroyed the whole flock.

There is no believing a liar, even when he speaks the truth.

Das Sprichwort als solches ist das erste Mal belegt bei Karl Simrock: Die deutschen Sprichwörter. Brönner 1846, Nr. 6674.

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