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Montag, 28. Februar 2011

Karl Kraus übers Zitieren

Aber ich gestatte keinem, eine Äußerung aus den letzten drei Jahren in wohlwollender Absicht zu zitieren, wenn er sich nicht verpflichtet, an die Kontrolle des Nachdrucks wenigstens den hundertsten Teil der Sorgfalt zu wenden, die ich an die Kontrolle des Drucks gewendet habe. Diese Mahnung geht eo ipso nur solche Redakteure an, die mir eine ihnen bequeme Meinung abknöpfen wollen und den Nachdruck mit jenen Worten einleiten, die mich sofort zur entgegengesetzten Meinung entflammen könnten: »Mit Recht bemerkt der bekannte Herausgeber der ‚Fackel‘«. Wenn also der Unfug schon geduldet werden soll, so müßte wenigstens der Text, der nach solcher Einleitung noch immer seinen künstlerischen Ursprung behaupten könnte, unverändert dastehen. Die Redakteure nehmen aber, was ihnen paßt, und markieren die Auslassungen nicht einmal durch Punktreihen. Welchem organischen Ganzen der Teil genommen war, ist dann nicht mehr zu erkennen. Daß man durch Streichung eine Plattheit in einen Gedanken, aber auch einen Gedanken in eine Plattheit verwandeln kann, verstehen diese sprachverlassenen Meinungssucher nicht. Und sie tun ein Übriges: sie sehen auch nicht nach, wie der Setzer ihr Flickwerk zugerichtet hat. In einer deutschen Monatsschrift, die von einer Dame redigiert wird, ist jeder Satz, mit dem ich angeblich »Recht« habe, verstümmelt oder in sein Gegenteil verkehrt. Daß durch Weglassung der Anführungszeichen in einem Satz, der noch ein zweitesmal vorkommt, statt einer Kontrastwirkung eine Wiederholung bewirkt wurde, dafür muß ein Setzer kein Verständnis haben. Aber ein Redakteur, der’s auch nicht hat, kennt nicht einmal die Verpflichtung, dort eine mechanische Kontrolle zu üben, wo ein Anderer gedacht hat. Die Dreistigkeit der Absicht, mich zu redigieren, würde ich noch verzeihlicher finden als die grundsätzliche Nichtachtung vor geistiger Arbeit, die in der sorglosen Preisgabe an die Gefahren des Druckes gelegen ist.
Karl Kraus, Die Fackel (1909), S. 26/27

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