„Es ist bei Schillern jedes Wort praktisch, und man kann ihn im Leben überall anwenden“, heißt es bei Goethe.
Wirklich? Und wenn ja, bei welchem, dem Vater oder dem Sohn? Oder war es ein anderer, der das festgestellt hat?
Tatsächlich sind diese Worte in einem Disput zwischen Goethes Sohn August und Johann Peter Eckermann gefallen.
Am 22. 6. 1827 notierte Eckermann in seinem Tagebuch:
(…) Diese Worte trafen den Nagel auf den Kopf, und ich gab mich gefangen. „Seht Doctor, Ihr seyd ein großer Mensch und ich habe Euch lieb, aber daß Ihr Schiller nicht anerkennen wollt deswegen könnte ich Euch umbringen!“ „Es wäre doch Schade“, sagte ich scherzend, „wenn ich wegen Schiller sterben sollte, denn ich möchte gerne noch dieß und jenes in der Welt thun.“ „Nein Ihr erkennt ihn nicht an.“ „Warum nicht, wie beweiset sich das?“ „Ihr sprecht nicht von ihm, Ihr ignoriret ihn.“ „Ich verleugne ihn nicht!“ „Aber Ihr tragt keine Stelle von ihm im Munde.“ „Weil ich zu wenig Praktisches finde. Es ist bey Schillern jedes Wort practisch, und man kann ihn im Leben überall anwenden. Aber Ihr kennt ihn nicht.“ „O wie Ihr sprecht“, sagte ich, „ich kenne Schillern so gut wie Einer, ich habe eine Periode im Leben gehabt, wo ich ihn viel las und bewunderte, weil ich nichts Besseres hatte. Aber das ist vorbey, ich habe etwas Höheres kennen gelernt und kann nicht zu ihm zurück.“ „Sagt lieber Ihr habt kein Organ für ihn! Es giebt Menschen die in gewisser Hinsicht ewig Raupen bleiben so lange sie leben, ein solcher seyd Ihr in Bezug auf Schiller. Ihr seyd bornirt! (Er trat zu mir heran und bezeichnete mit seinem Finger eine Linie auf meiner Stirn.) „Hier sieht man es Euch an, daß Ihr bornirt seyd und Schiller nie begreifen werdet!“ Dieß war beleidigend und ich fühlte daß mein Blut in Bewegung kam, doch bändigte ich meine Empfindungen im Gefühle des Ortes der mich umgab. „Gehen Sie mir mit Ihrem Schiller“, sagte ich, „ich weiß so gut was an ihm Vorzügliches und Fehlerhaftes ist, als Einer. Schiller ist ein guter Theaterdichter und voller Wirkung von der Bühne herunter, im Übrigen aber kann man für höhere Menschenbildung nicht viel aus ihm gewinnen. Seine ersten Stücke sind roh, und auch in den späteren beleidigt er nicht selten die Natur und Convenienz.“ „Sie reden von den Räubern“, sagte Herr v. Goethe, „und das gebe ich zu, aber seine späteren Stücke sind der Stolz der deutschen Literatur. In den ersten Sachen meines Vaters ist auch manches gesündigt.“ „Mag seyn gegen die Kunst“, sagte ich, „aber nie gegen die Natur. Ihr Herr Vater war gesund und vollkommen geboren, dagegen Schiller ist erst durch die Cultur geworden was er ist.“ „Um etwas zu werden“, sagte Herr v. Goethe, „mußte er doch auch etwas seyn; er war ein roher Diamant der jetzt als geschliffener Stein glänzt, aber er mußte doch ein Diamant seyn, um solche Strahlen hergeben zu können als er jetzt thut.“ Ich freute mich des Gleichnisses und gab es ihm zu.“ (Hier bricht der Eintrag ab)Eckermann war zwar schwer gekränkt, wie es heißt, aber am 27. 6. 1827 schrieb er dann doch an Goethe – den Vater, nicht den Sohn –:
(In Goethes Gespräche: Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann erg. und hrsg. von Wolfgang Herwig, Bd. 3,2: 1825–1832. Artemis 1972, S. 153)
Excellenz! Ich zweifle, ob ich es wagen darf, heute zu Tisch zu kommen, indem ich noch nicht so glücklich gewesen, mich mit Ihrem Herren Sohne zu zu versöhnen. Ich bin ihm jedoch längst wieder gut und hoffe auch daß dieses Mißverhältniß sich bald wieder ausgleichen werde.Johann Wolfgang von Goethe ist also nicht der Urheber des Zitats, aber auch nicht sein Sohn, sondern Eckermann selbst.
(In J. P. Eckermann: Sein Leben für Goethe: Nach seinen neuaufgefundenen Tagebüchern und Briefen dargestellt. Bd. 1. Haessel 1928, S. 292)
Wobei eh nicht ganz klar ist, wer was gesagt hat, denn auf dem Weg zum Drucker sind wohl irgendwann einmal zwei Gänsefüßchen verlorengegangen. Meiner Meinung nach fehlen sie zwischen „und man kann ihn im Leben überall anwenden“ und „Aber Ihr kennt ihn nicht“, denn dass Eckermann nun seinerseits August von Goethe vorwirft, er würde Schiller nicht kennen, erscheint mir unwahrscheinlich. Die richtige Zeichensetzung müsste lauten „… überall anwenden.“ „Aber Ihr kennt ihn nicht.“ – Woran man mal wieder sieht, wie wichtig sogar Gänsefüßchen sein können … –
Hallo Jutta, einen interessanten Blog hast du. Ich mag ja den Eckermann in den Gesprächen, auch wenn er mir manchmal zu devot ist. Richtig viel Glück hatte der ja nie im Leben.
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