An den Varrus
(Catulls zwey und zwanzigstes Gedicht.)
Suffenus, den du kennst, mein Varrus, ist galant,
Sehr höflich, schwatzt mit viel Witz, und macht dabey
Nicht wenig Verse: wo mir recht ist, hat er wohl
Zehn tausend oder mehr geschrieben; nicht, wie sonst
Gewöhnlich ist, auf kleinen Täfelchen: o nein!
Sein Buch ist königlich Papier(1), der Umschlag neu,
Neu sind die Stäbchen, roth die Riemen(2); alles glatt
Von Bimsstein, und die Zeilen nach der Schnur gemacht.
Doch lies sein Werk! Der Weltmann, der so höfliche
Suffenus ist ganz Schäferknecht; nicht gröber ist
Ein Karrenschieber: so verwandelt ist er, so
Nicht mehr er selbst(3). Was heißt das? der von lustiger –
Ja mehr noch – possenhafter Laune war, der ist
Noch ungeschliffner, als das ungeschliffne Dorf,
So bald er Verse macht(4); fühlt bey den Versen sich
Glückseliger, als jemahls: so herzinniglich
Vergnügt er sich, so sehr bewundert er sich selbst(5.). –
Doch jeder fehlt auf gleiche Weise(6.); niemand lebt,
Der nicht in irgend einem Stück Suffenus ist.
Sein eigner Irrthum, scheints, ist jedem ausgetheilt:
Nur sehn wir nicht den Sack, der uns vom Rücken hängt(7).
(1) Catulls charta regia können wir wörtlich übersetzen: unser größestes Papier heißt gleichfalls Rojalpapier, Königspapier
(2) Womit die Bücher zusammen gehalten wurden.
(3) Das Gemählde vom Suffunus scheint Catull nach der Natur gezeichnet zu haben. Ähnliche Charaktere findet man noch zu unseren Zeiten, wie folgende Stelle eines Briefes bezeuget „Sollten Sie wohl glauben, daß X., der als Schriftsteller einen so befehlshaberischen Ton annimmt, so erzgrob ist, die würdigsten Männer so verächtlich behandelt, daß eben dieser X. im Umgange gar nicht von sich eingenommen, sondern sehr nachgebend und höflich, ja so gar dehmüthig ist?“
(4) Diese groben satirischen Verse sind verloren gegangen. Es ist zu wünschen, daß kein Neuerer die Handschrift finden und übersetzen mag.
(5) Daß er es so gut gemacht hat; daß er es Andere so brav hat fühlen lassen.
(6.) Hier scheint der Dichter in sich zu gehen, und nachzudenken, ob er nicht einen ähnlichen Fehler begangen habe. Besser, diesen Vorwurf sich selbst zu machen, als ihn von andern zu hören.
(7.) Bezieht sich auf die alte Fabel, daß Jupiter einem jeden seine Fehler in einen Sacke auf den Rücken gelegt habe. Unsern eigenen Sack sehen wir nicht, sondern dessen nur, der vor uns geht. Eben dieses läßt auch Horaz den Damasippus sagen:
Wer mich närrisch nennt, er soll ein Gleiches hören; erfahren / Soll er, was ihm vom ungesehenen Rücken herabhängt. (2. Sat. III, 298 299.)Und Persius: (IV. 3)
Nur den Sack auf den Rücken des vor uns Gehenden sehen wir.Phädrus redet von den zwey Säcken, und meinet damit den Quersack, der in der Mitte seine Öffnung hat, und also im Grunde aus zwey Säcken besteht. In dem einen, sagt er, der uns vor der Brust hängt, sind die Fehler Anderer, und in dem, der uns über dem Rücken hängt, unsre eigenen eingeschlossen
Gaius Valerius Catullus (in der Übersetzung von Karl Wilhelm Ramler)
(In Berlinische Monatsschrift, Bd 17. Haude und Spener 1791, S. 109ff.; siehe auch Karl Wilhelm Ramler: Kajus Valerius Kutullus: in einem Auszuge Lateinisch und Deutsch. Kummer 1793, S. 57ff.)
Suffenus iste, Vare, quem probe nosti,
Homo est venustus et dicax et urbanus,
Idemque longe plurimos facit versus.
Puto esse ego illi milia aut decem aut plura
Perscripta, nec sic ut fit in palimpsesto
Relata: chartae regiae, novei libri,
Novi umbilici, lora rubra, membrana
Directa plumbo, et pumice omnia aequata.
Haec cum legas tu, bellus ille et urbanus
Suffenus unus caprimulgus aut fossor
Rursus videtur: tantum abhorret ac mutat.
Hoc quid putemus esse? qui modo scurra
Aut siquid hac re tritius videbatur,
Idem infaceto est infacetior rure,
Simul poemata attigit, neque idem unquam
Aeque est beatus ac poema cum scribit:
Tam gaudet in se tamque se ipse miratur.
Nimirum idem omnes fallimur, neque est quisquam,
Quem non in aliqua re videre Suffenum
Possis. suus cuique attributus est error:
Sed non videmus, manticae quod in tergo est.
(In Q. Valerii Catulli Veronensis Liber. Reimer 1828, S. 12f.)
Poem 22. To Varus Abusing Suffenus*
That Suffenus, Varus, whom thou know’st right well, is a man fair spoken, witty and urbane, and one who makes of verses lengthy store. I think he has writ at full length ten thousand or more, nor are they set down, as of custum, on palimpsest: regal paper, new boards, unused bosses, red ribands, lead-ruled parchment, and all most evently pumiced. But when thou readest these, that refined and urbane Suffenus is seen on the contrary to be a mere goatherd or ditch-lout, so great and shocking is the change. What can we think of this? he who just now was seen a professed droll, or e’en shrewder than such in gay speech, this same becomes more boorish than a country boor immediatly he touches poesy, nor is the dolt e’er as self-content as when he writes in verse—so greatly is he pleased with himself, so much does himself admire. Natheless, we all thus go astry, nor is there any man in whom thou canst not see a Suffenus in some one point. Each of us has his assigned delusion: but we see not what’s in the wallet on our back.
(In Caius Valerius Catullus: The Carmina. 1894, S. 45f.; translated by Richard Burton)
Eduard Mörike dichtete Ramlers Übersetzung um:
An Varrus (auch Der eingebildete Dichterling)
Du kennst ja den Suffenus, Freund; er ist galant,
Sehr artig, schwatzt mit vielem Witz und macht dabei
Nicht wenig Verse: wo mir recht ist, hat er wohl
Zehntausend, oder mehr geschrieben; nicht wie sonst
Gewöhnlich ist, auf kleinen Täfelchen: o nein!
Sein Buch ist königlich Papier, der Umschlag neu,
Neu sind die Stäbchen, roth die Riemen. Alles glatt
Vom Bimsstein, und die Zeilen nach dem Lineal.
Doch lies sein Werk: der Weltmann, der so artige
Suffenus ist ganz Bauer; nein, nicht plumper ist
Ein Karrenschieber: so verwandelt ist er, so
Nicht mehr er selbst. Was denkst du? Dieser feine Herr,
Scherzhaft, gewandt, anmuthig, was man sagen kann,
Ist ungeschlachter, als das ungeschlachte Dorf,
Sobald er Verse macht! und ist nie glücklicher,
Als wenn er Verse macht! Ich sage dir, das Herz
Lacht ihm dabei, er ist voll Selbstbewunderung. -
Doch wer hat nicht dergleichen etwas? zeig’ mir den,
Der nicht in irgendeinem Stück Suffenus ist!
Ein jeder hat sein Theilchen Narrheit abgkriegt,
Nur sehn wir nicht den Sack, der uns vom Rücken hängt.
(In Eduard Mörike (Hrsg.): Classische Blumenlese: Eine Auswahl von Hymnen, Oden, Liedern, Elegien, Idyllen, Gnomen und Epigrammen der Griechen und Römer, Bd. 1. Schweizerbart’sche 1840, S. 188; zu eventuellen Umdichtungen von Übersetzungen siehe die Vorrede ab S. iii)
Eine neuere Nachdichtung unter dem Titel Ein Weltmann und Dichterling von Otto Weinreich aus dem Jahr 1960 siehe hier, und eine moderne Übersetzung, in der sogar das Wort „Recyclingpergament“ auftaucht hier.
Bekannt geworden sind Catulls Worte „Suus cuique attributus est error“ als „Wir fehlen alle mannigfach“, „Fehler sind das Merkmal unseres Menschentums“ oder als „Jeder hat seine eigenen Fehler“.
Links zu Übersetzungen ins brasilianische Portugiesisch, Chinesische, Kroatische, Finnische, Französische, Ungarische, Italienische, in Rioplatense und Vercellese sowie Vergleichsmöglichkeiten zwischen all diesen Sprachen einschließlich Latein, Englisch, Deutsch und der Transkription der gescannten Vorlage siehe http://rudy.negenborn.net/catullus/text2/l22.htm
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