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Sonntag, 1. Mai 2011

Die Geschichte vom Axtdieb


Die Geschichte vom Axtdieb

„Einst hatte jemand eine Axt verloren. Er hatte seines Nachbars Sohn in Verdacht. Er beobachtete die Art, wie er ging: es war die Art eines Axtdiebes; seine Mienen: es waren die eines Axtdiebes; seine Worte: es waren die eines Axtdiebes; seine Bewegungen und sein ganzes Wesen, alles was er tat: alles war die Art eines Axtdiebes. Zufällig grub er dann einen Graben und fand seine Axt. Am anderen Tag sah er wieder seines Nachbars Sohn, alle seine Bewegungen und sein ganzes Wesen glichen nicht mehr der Art eines Axtdiebes. Sein Nachbarsohn hatte sich nicht verändert. Er selbst hatte sich verändert. Was war der Grund davon? Nichts anderes, als daß etwas da war, das ihn in unbefangener Beobachtung störte.“

Lü Bu Wie (um 300–235 v. Chr.), Beseitigung der Befangenheit / Kü Yu

(In Chunqiu – Frühling und Herbst des Lü Bu We. S. E. Diederichs 1928, S. 164; siehe auch Zeno.org)

Es gibt jedoch eine ältere Version des Axtdiebes mit der Verfasserangabe Liezi (Liä Dsi, auch Licius, Livius), der um 450 v. Chr. lebte:
Wer hat die Axt gestohlen?

Es war einmal ein Mann, der hatte seine Axt verloren. Er hatte seines Nachbars Sohn im Verdacht und beobachtete ihn. Die Art, wie er ging, war ganz die eines Axtdiebes; sein Gesichtsausdruck war ganz der eines Axtdiebes; die Art, wie er redete, war ganz die eines Axtdiebes; aus allen seinen Bewegungen und aus seinem ganzen Wesen sprach deutlich der Axtdieb. Zufällig grub jener einen Graben um und fand seine Axt. Am anderen Tag sah er seinen Nachbarssohn wieder. Alle seine Bewegungen und sein ganzes Wesen hatten nichts mehr von einem Axtdieb an sich.“
(In Liä Dsi: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Stuttgart 1980, S. 181; Quelle: zeno.org)
Die Schrift enthält Erzählungen, die nach Liezis Tod von dessen Schülern zusammengetragen wurden. Zudem reden auch chinesische Gelehrte von später gemachten Zusätzen, so dass es durchaus sein kann, dass Lü Bu Wies Text dort Aufnahme fand.

Eine noch ältere Version mit der Urheberangabe Lao Tse, der im 6. Jahrhundert v. Chr. levte, oder auch „Nach Lao Tse; gefunden in Gelassenwerden, Herder 1996, lautet:
Der Axtdieb

Ein Mann fand eines Tages seine Axt nicht mehr. Er suchte und suchte, aber sie war verschwunden. Der Mann wurde ärgerlich und verdächtigte den Sohn seines Nachbarn, die Axt genommen zu haben. An diesem Tag beobachtete er den Sohn seines Nachbarn ganz genau. Und tatsächlich: Der Gang des Jungen war der Gang eines Axtdiebs. Die Worte, die er sprach, waren die Worte eines Axtdiebs. Sein ganzes Wesen und sein Verhalten waren die eines Axtdiebs. Am Abend fand der Mann die Axt durch Zufall hinter einem großen Korb in seinem eigenen Schuppen. Als er am nächsten Morgen den Sohn seines Nachbars erneut betrachtete, fand er weder in dessen Gang, noch in seinen Worten oder seinem Verhalten irgend etwas von einem Axtdieb.
In einem japanischen Forum habe ich allerdings eine viel schönere Form dieser Geschichte gefunden:
Der Bauer Dong suchte einen halben Tag lang nach seiner Axt. Er konnte sie nicht finden.

Da begann er seinen Nachbarn Luo zu beobachten. Ging Luo, der Nachbar, nicht ganz genau wie ein Axtdieb? Klangen die Worte des Nachbarn nicht wie die Worte eines Axtdiebs? Lachte er nicht wie ein Axtdieb? Waren seine Blicke und Bewegungen nicht ganz ähnlich wie die Blicke und Bewegungen des Axtdiebs?

Zufällig fand Dong die Axt unter seiner Treppe wieder.

Als er sich am nächsten Tag wieder mit seinem Nachbarn unterhielt, hatte sich der Nachbar ganz verändert. Luo ging nicht mehr wie ein Axtdieb, redete nicht mehr wie ein Axtdieb, lachte nicht mehr wie ein Axtdieb, in seinen Blicken und Bewegungen war nichts mehr von einem Axtdieb.
Heiner Müller hat den Axtdieb in der Version von Livius als Vorlage für das Gedicht Herr Dschu verteidigt sein Eigentum genommen. Allerdings endet es überraschend:
Und beschloß das Spiel zu gewinnen / Und zögerte nicht und ging hin / Mit der Axt und schlug mit der Axt den / Schädel ein Herrn Dschin.
(In Katharina Ebrecht: Heiner Müllers Lyrik: Quellen und Vorbilder. Königshausen & Neumann 2001, S. 87);
die spanische Übersetzung des Gedichts – O señor Dschu defende a súa propiedade – findet man mit weiteren Gedichten Heiner Müllers hier)

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